Handtaschentagträumerei

Die Ärztin hat eine besonders schicke. Schwarzes Leder, silberner Reißverschluss. Klassisch. Die Marke kenne ich nicht, aber das will nichts heißen; Mode gehört nicht zu meinen Kernkompetenzen. Teuer sieht sie auf jeden Fall aus. Der Patient hat keine. Seinen blauen Hefter mit Arztbriefen, Rezepten und Röntgenbildern hat er in einer Plastiktüte dabei. Das sehe ich nicht zum ersten Mal; insbesondere Männer scheinen oft nicht im Besitz eines sac-à-main  zu sein, dem medialen Gerede von Metrosexualität zum Trotz. So schnell scheint das nicht zu klappen mit dem Kreieren neuer Bedürfnisse zur Konsumsteigerung. Doch Moment, da ist doch der eine junge Assistenzarzt, der immer mit seiner bunten Paul Smith Tasche herumläuft, die mir gut gefällt. Von der er mir neulich stolz erzählt hat, sie hätte laut unverbindlicher Preisempfehlung um die 600€ gekostet, er habe sie aber deutlich günstiger erstanden, natürlich. Beeindruckend! Oder liegt es daran, dass wir nicht in Paris sind, sondern in einem der nördlichen Banlieues und hier einfach weniger Geld am Ende des Monats übrig bleibt für derlei Produkte? An schicken Pariser Herren habe ich auch schon viele lederne Aktentaschen gesehen. Die nächste Patientin hält lässig ein Modell aus dem Hause Gucci in der Hand. Gut gemacht, trotzdem ist klar, dass sie nicht echt ist. Oder? Frage: Wenn eine Frau aus den Banlieues ihr nützliches Accessoire (made in Turkey oder auch China, wer weiß das heute schon genau) mit der für teures Geld in der Galerie Lafayette erstandenen Luxushandtasche einer Dame aus dem schicken 15. Pariser Arrondissement tauschen würde, würden wir das bemerken? Oder beurteilen wir eine Handtasche anhand ihrer Besitzerin? Urteil bedeutet übrigens Ansicht oder Auffassung, streng genommen geht es nur im gerichtlichen Kontext um einen mehr oder minder fest stehenden Schuldspruch.

Der Herr mit der Plastiktüte lässt im Gehen von seinem Sohn grüßen: der sei gerade fertig geworden mit seinem Studium und habe soeben seine Ausbildung als Assistenzarzt begonnen. Vor nicht all zu langer Zeit habe er ebenfalls ein Praktikum in diesem Krankenhaus gemacht. Ach ist das schön.

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