Kultur und Kommunikation

‚Der Vater ist auch Internist.‘, die Notfallschwester schaut mich bedeutend an. Ich zucke mit den Schultern. ‚Na und?‘. ‚Naja, der kam schon rein und wollte direkt ein Röntgenbild und dann eine Blutentnahme, der hat schon genau gesagt, was jetzt der Plan ist. So einer ist das.‘

Es ist ein etwas verregneter Sommertag, der erste seit fast drei Wochen. Mein 12-Stunden-Dienst neigt sich dem Ende entgegen. Nach einer anstrengenden Woche im Spätdienst (mit vielen Kindern mit infizierten Insektenstichen und – für die Sommerzeit etwas überraschend – reichlich Infekten und obstruktiven Bronchitiden), war der Tag heute überraschend ruhig. Während wir unter der Woche jeden Tag erneut hin- und herüberlegt haben, ob doch genug Platz für ein weiteres Kind ist, teilweise Betten verschieben mussten und mit den Pflegern der unterschiedlichen Stationen verhandelt haben,  ist es dieses Wochenende auf den Stationen regelrecht leer. Ich habe auf einer Station sieben Kinder visitiert, auf der zweiten fünf. Einige konnte ich entlassen, nachmittags hatte ich sogar Zeit, Briefe zu diktieren und so für meine Kollegen ein bisschen vorzuarbeiten. Der dicke Stapel Akten, der in meinem Fach lag, ist auch durchgearbeitet. Meiner Kollegin ging es ähnlich, die letzten zwei Stunden fingen sogar an, sich in die Länge zu ziehen. Das kommt im Krankenhaus eher selten vor.

Nun, kurz vor Feierabend, geht es aber los. Meine Kollegin ist gerade mit einer anaphylaktischen (allergischen) Reaktion nach Wespenstich beschäftigt, ich sehe mir ‚das Knie‘ an – einen 14jährigen Jungen mit dickem Knie seit gestern, der zunehmend schmerzgeplagt ist und nun zur stationären Diagnostik und Therapie eingewiesen wurde.

Der Vater ist also Internist.

Ich klopfe an, betrete das Untersuchungszimmer und stelle mich vor. Herr P. spricht sehr schnell und gebrochen Deutsch, ich verstehe ihn nicht gut. In der Tat weist er mich direkt darauf hin, dass er ärztlicher Kollege sei. Ich bleibe höflich und frage kurz nach – aus welchem Land er komme und ob er auch in Hamburg praktiziere. Er nickt eifrig, er sei Allgemeinmediziner, habe zum Teil in Afghanistan und in Deutschland studiert, und arbeite seit mehreren Jahren in einer Praxis. Ich nehme alles kurz auf, wende mich dann aber seinem Sohn, meinem Patienten und damit der eigentlichen Hauptperson zu. Diesem ist sichtlich peinlich, dass sein Vater plaudern will, aber das ist bei den meisten Jugendlichen so.

Das Knie ist tatsächlich deutlich geschwollen, der Junge fieberfrei, kein Zeckenstich erinnerlich – ich bereite die Aufnahmepapiere vor, stelle meinen Patienten meiner chirurgischen Kollegin vor (weil ich mir vorstellen kann, dass eine Punktion sowohl diagnostisch als auch therapeutisch schon heute sinnvoll ist) und schicke den Patienten über die Röntgenabteilung hoch auf die Station.

Herr P. nickt geflissentlich, er ist zufrieden mit diesem Plan; mir ist seine devote Art etwas unangenehm.

Und warum hat er von Anfang an betont, dass er ärztlicher Kollege sei? Mein Anspruch ist, allen Patienten gerecht zu werden, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer sozialen Stellung oder ihres Berufes.

Gleichzeitig muss ich an die Fortbildung eines Kollegen denken, die mich letzte Woche sehr inspiriert hat. Das Thema: Medizinische Versorgung geflüchteter Kinder. Um somatische Erkrankungen ging es nur sekundär (O-Ton meines Kollegen: ‚Bei der Vorbereitung habe ich gemerkt, dass das eigentlich alles recht banal ist, mehr Tuberculose und Infektionserkrankungen, Impfungen müssen nachgeholt werden, chronisch erkrankte Kinder wurden aufgrund ihrer Flucht oft monatelang nicht adäquat betreut etc.‘). Was am Ende eher im Fokus stand, war nicht nur spannend, sonder auch hochgradig relevant für unsere Arbeit: Kultur, Trauma, Kommunikation; unseren Patienten und ihren Eltern angemessen zu begegnen und ihnen gerecht zu werden.

Herr P. hat mir gerade erzählt, dass er schon in den 1970er Jahren nach Deutschland gekommen ist. Sein Auftreten (Jogginghose, alte Jacke) hat mich im ersten Moment nicht vermuten lassen, dass er Arzt ist (ich gebe zu, ganz frei vom ersten Eindruck und einem gewissen Schubladendenken bin auch ich nicht), aber gerade ihm war es besonders wichtig, seinen Beruf von Anfang an zu betonen. Erhofft er sich darüber mehr Respekt oder eine gründlichere Behandlung, als ihm in unserer Gesellschaft ansonsten entgegen gebracht wird? Ob er sich in Deutschland eine andere Karriere erhofft hat, die sich nicht hat erfüllen lassen? Und ob die Art, die ich als fast unterwürfig wahrnehme, vielleicht nur der höfliche Umgang ist, der in seinem Kulturkreis bei einem Arztbesuch als angemessen gilt?

Ich möchte nicht mutmaßen, mache mir aber Gedanken und bin froh, ihm offen begegnet zu sein und nicht etwa unwirsch, was nach der ‚Vorwarnung‘ meiner Kollegin auch eine Möglichkeit gewesen wäre. Denn was auch immer seine Geschichte sein mag, die ihn auftreten lässt, wie er ist – es ist nicht meine Aufgabe, das zu bewerten und wenn möglich, lasse ich mich nicht davon nicht irritieren. Sondern begegne ihm mit Respekt, nehme ihn und seinen Sohn ernst und lasse es nicht zu, dass mein klinischer Blick verschleiert wird. Wie ich es mit allen meinen Patienten mache.

Zumindest ist das der Plan.

Und mich immer wieder daran zu erinnern und zu hinterfragen eine meiner tagtäglichen Aufgabe.

Ein Gedanke zu „Kultur und Kommunikation

  1. Hallo,

    toll dass du endlich wieder schreibst! Ich lese deine Geschichten aus deinem Alltag sehr gerne. Es ist interessant auch mal Einblicke in die andere Seite des Klinikalltags auf einer Kinderstation zu bekommen. Persönlich kenne ich nur die der Patienten bzw. Begleitperson.

    Ich freue mich schon auf weitere Geschichten!

    Mach weiter so. 🙂

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