In einem Spätdienst vor drei Wochen geht es los. Was die steigenden Infektionszahlen, die ich nun wieder aktiver verfolge als in der ‚Sommerpause‘, schon haben befürchten lassen, wird wahr. Gleich drei Anrufe aus dem Labor kommen innerhalb von zehn Minuten. Drei unserer Patienten sind positiv auf Corona getestet worden. Zwei Säuglinge (plus Mütter) und ein Schulkind.
Der ansonsten ruhig begonnene Dienst nimmt an Fahrt auf. Ich gehe von Zimmer zu Zimmer, Station zu Station. Kläre Eltern auf, bespreche mich mit den Schwestern, halte meinen Oberarzt auf dem Laufenden, informiere unseren hausinternen Corona-Krisenstab, lege zwei betroffene Kinder zusammen, um Zimmer zu sparen. Kohortenisolation, wie es so schön heißt.
Im Dienst selbst habe ich zu viel zu tun, um mir Gedanken zu machen.
Am Morgen danach überkommt mich die Sorge. Zwei der Patienten habe ich aufgenommen und bei der Untersuchung bin ich den Kindern sehr nahe, nicht selten werde ich angehustet, angeweint, angeschrien. (Insbesondere die Zweijährigen haben große Angst davor, eine fremde Person so nah an sich heranzulassen.) Ist die FFP2-Maske wirklich ein ausreichender Schutz? Oder werde ich nicht den ganzen Winter über eine Risikoperson sein für andere, mich im Privaten noch mehr isolieren müssen, als ich es sowieso schon tue?
Meine Schwester kauft Corona-Schnelltests; wir sprechen über das Für und Wider, ist es ethisch vertretbar, dass wir unseren Arztausweis zücken, um uns selbst einige Tests zu kaufen? Wir kommen zu dem Schluss, dass es mit Sicherheit nur ein kleines Kontingent gibt, was auf diesem Wege zu erwerben ist, und dass es wohl eher verantwortungsvoll ist, sich regelmäßig zu testen. (Kurz danach werden regelmäßige Personalabstriche auch in meiner Klinik wieder eingeführt, so dass ich nur kurzzeitig Selbstversorger war.)
Mittlerweile bin ich wieder etwas entspannter – in der Klinik hat sich niemand der Pflege oder ÄrztInnen angesteckt; unsere Hygiene-Maßnahmen greifen. Ich erlaube mir, etwas aufzuatmen.
Doch der Alltag im Krankenhaus ist nur das eine.
Im Privaten wird mir langsam bewusst, dass Corona unsere Gesellschaft spalten kann. In meinem engsten Freundeskreis habe ich niemanden, der seinen Job verloren hat oder in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Aber ich spüre deutlich, wie auch in diesem kleinen, insgesamt privilegierten Kreis der Widerwillen gegen die erneuten Maßnahmen oder zumindest der Zweifel an ihrer Sinnhaftigkeit wächst; die Sorge vor wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen ist da; und die Vorgaben werden unterschiedlich streng umgesetzt.
Ich gehöre wohl eher zu den braven Hardlinern, die im Marshmallow-Test bereit gewesen wären, Geduld zu üben in Aussicht auf die doppelte Belohnung und die sich zwischendurch fragen, warum nicht über einen harten Shutdown für zwei bis drei Wochen geredet wird (Vorbild Wuhan): In der Hoffnung, dann ein für allemal durch zu sein mit dem Virus, anstatt – wie ich es jetzt vorhersehe – durch den ganzen Winter und vermutlich noch länger mit starken, aber letztlich nicht konsequenten Einschränkungen zu tingeln. Sorgfältig angekündigt, so dass jeder sich Vorräte anschaffen kann – ginge das nicht? Klar, dafür müssten alle mitmachen, am besten auch die Nachbarländer – und das wird wohl für unrealistisch gehalten in unserer Demokratie, in der das Individuum im Mittelpunkt steht. Aber Stamina braucht es auch, um die nun schon über Monate geltenden Restriktionen (mal mehr, mal weniger streng) einzuhalten; und das – so beobachte ich es – ist am Schwinden.
Mein Bild? Dass Kontaktbeschränkungen sinnvoll sind, leuchtet mir ein. Denn dass Restaurantbesuche, Konzerte, Kinos oder volle U-Bahnen keine Infektionsquelle sind – wer weiß das schon? Ich habe aus dem privaten Umfeld eher gehört, dass gerade das die einzig möglichen Quellen sein können, weil Betroffene ansonsten kaum Kontakte hatten, schon gar nicht wissentlich zu COVID-Erkrankten. Und dass das Virus nicht tödlicher ist als andere, verstehe ich auch; dass es aber dennoch problematischer ist, weil es neu ist und keine Herdenimmunität durch Impfungen oder durchgemachte Infektionen besteht, ist doch klar, oder? Denn wenn wir alle gleichzeitig an Masern oder der Grippe erkranken würden, wäre das auch dramatisch.
Corona ist über uns gekommen. Schicksal. Am ehesten ‚Schuld‘ ist unser nicht-nachhaltiger Lebensstil, Urbanisierung, Verdichtung, Vernetzung, die Tatsache, dass Homo Sapiens den Planeten erobert hat, der dem Virus einen fruchtbaren Boden bietet. Nicht neu, Epidemien gab es immer schon. Neu ist, dass wir den Anspruch haben, unsere technischen und demokratischen Möglichkeiten zu nutzen, um auch die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft zu schützen. Und uns langfristig unsere Freiheiten zu bewahren; aber auch kritisch evaluieren, wie wir eigentlich leben.
Eine Herausforderung, der wir hoffentlich gewachsen sind.
Was meint ihr?
In diesen Zeiten ist zusammenhalten allemal besser als zusammenstehen.
LikeLike