Schwester M. kuckt mich überrascht an. ‚Was machst du denn schon hier?‘ Sie wirft einen vielsagend-vorwurfsvollen Blick auf die Uhr an der Wand. Ich senke den Blick, ein bisschen gespielt-übertrieben, aber irgendwo auch einfach nur ehrlich. ‚Heute bin ich das erste Mal allein hier auf Station. Naja, und das ist ja schon ziemlich aufregend und ich bin früh aufgewacht – und dann dachte ich, kann ich auch einfach schon herkommen.‘ M. empört sich, auch sie übertreibt ein bisschen. ‚Wie, so schnell lassen die dich hier allein? Das ist ja was!‘ Dann ein verschwörerischer Blick, leicht flüsternd, ‚Das bekommen wir schon hin!‘
Tatsächlich bin ich aufgeregt und habe mich heute Nacht im Traum in der Chefarztvisite gesehen, den Blick das erste Mal in die Kurven werfend, ohne ein einziges Kind visitiert zu haben. Ziemlich verloren, mit hochrotem Kopf. Dabei werde ich nie rot, zumindest nicht sichtlich für andere. Bei Tageslicht betrachtet ist meine Aufregung albern, aber so ist das wohl mit Albträumen. Referate sind mir nie schwer gefallen, vor Gruppen reden, da habe ich kein Problem mit. Aber die Chefarztvisite heute Mittag, gleich am Montag? Direkt aus dem Wochenende kommend nach einem halben Tag alle Kinder vorzustellen, davor habe ich Respekt. Wer weiß, wie sich der Vormittag gestaltet und ob genug Zeit bleibt, um mich zu organisieren. Daher bin ich nun erleichtert, als ich merke, dass die knappe halbe Stunde, die ich früher als geplant da bin, locker ausreicht, um mir einen guten Überblick zu verschaffen. Sechs Patienten habe ich momentan zu betreuen auf der Säuglingsstation, letzte Woche waren es zwischenzeitlich zehn. Glück gehabt. Ich werfe einen Blick in die Akten, aktualisiere die Bettenliste und plane, was heute so ansteht bei den kleinen Patienten. Bei zwei sind noch Echokardiografie und Sonographie fällig, eins fiebert weiterhin bei zum Glück unauffälligen Entzündungswerten, bekommt eine Infusionstherapie und muss vor allem klinisch überwacht werden, ein anderes darf heute vielleicht nach Hause. Die anderen beiden sind schon gut versorgt, es steht nichts neues an. Das sieht machbar aus!
Mit einem guten Gefühl geht es in die Morgenbesprechung. Montags, nach einem Wochenende, ist die besonders lang. Von ‚meinen‘ Patienten wird ganz am Anfang berichtet – jetzt bin ich doppelt froh, dass ich ihre Geschichten schon einordnen kann.
Zurück auf Station vergeht die Zeit schnell, ohne dass ich mich gehetzt fühle: Laborergebnisse nachschauen, Briefe diktieren, Kinder untersuchen, zwischendurch Blut abnehmen, Eltern zuhören. Fragen mit meinem Oberarzt klären, telefonisch Untersuchungen einfordern.
Irgendwann kommt Schwester M. auf mich zu. Wieder verschwörerisch flüsternd. ‚Klappt doch gut, oder? Du hast doch voll den Überblick!‘ Ich grinse, ein bisschen macht diese Verschwesterung uns beiden Spaß. Aber M. hat Recht. Ich habe mir im Vorhinein viel zu viele Gedanken gemacht. Es läuft.
Jetzt fehlt nur noch die Chefarztvisite. Umringt von 12 Kollegen stelle ich kurz vor der Mittagspause meine Patienten vor. Früher dachte ich immer, das müsse komplett frei geschehen, doch in meiner Klinik ist es allgemein üblich und akzeptiert, sich die Kurve zu Hilfe zu nehmen. Eine Präsentation mit Spickzettel gewissermaßen. Und auch die läuft.
Es fühlt sich an, als läge der schlimmste Teil der Woche schon hinter mir. Und dabei war es im Nachhinein gar nicht schlimm, sondern ein schöner Arbeitstag.