Leon ist noch nicht einmal drei Jahre alt und trotzdem ist er schon längst der große Bruder. Immer wieder hält er seinem 16 Monate alten kleinen Bruder Anton einen Becher mit Strohhalm hin. Der hat sich gestern und heute Nacht ein Dutzend Mal erbrochen, dreimal Durchfall gehabt und seine Eltern binden nun ihren ‚Großen‘ ein: er soll mit darauf achten, dass sein kleiner Bruder genug trinkt. Schon beim Reinkommen bin ich amüsiert: Die Jungs sind fast gleich los, babyspeckig und tapsig der eine, schlank und munter vor sich hin erzählend der andere. Zuckersüß.
Mama und Papa berichten, besonders aufregend im medizinischen Sinne ist die Geschichte nicht. Klingt nach typischer Gastroenteritis, einem Magen-Darm-Infekt. Dabei kein Fieber, Trinkverhalten bislang noch ausreichend. Intuitiv machen sie schon alles richtig, brauchen aber dennoch die ärztliche Rückversicherung, dass es ihrem Kind den Umständen entsprechend gut geht sowie Therapieempfehlungen. Glücklicherweise gehören sie nicht zu denjenigen, die der Meinung sind, Antibiotika würden bei allem sofort helfen. (Wobei man – zugegebenermaßen mit Geduld und Zeit – auch die meist eines Besseren belehren kann.)
Als ich den kleinen Anton untersuche, steht Leon daneben, aufmerksam schaut er mir auf die Hände und beobachtet genau, was ich mit dem Stethoskop anstelle. Der Kleine macht ruhig und ernst mit. Wie fast alle Kinder in dem Alter hört die Kooperationsbereitschaft allerdings beim Anblick des Otoskops (zum in die Ohren sehen) und spätestens beim Versuch, in den Mund zu leuchten auf. Anton fängt an zu weinen und wehrt sich mit ganzer Kraft. Mit Mamas festem Griff gelingt es mir trotzdem, einen kurzen Blick zu erhaschen (Rachenraum unauffällig) und ich drehe mich erleichtert um. Denn ein Kind (wenn auch kurz) zu etwas zu zwingen, was es nicht will, auch mit den besten Intentionen, ist auch nicht meine Lieblingstätigkeit.
Ich nehme Abstand um Anton zu signalisieren, dass ‚die Gefahr vorbei‘ ist – und blicke in das Gesicht des ‚großen‘ Bruders: Die Augen mit Tränen gefüllt, das Kinn leicht zitternd, schockiert, gelähmt, leidend blickt Leon mich an.
Empathie in seiner Reinform. Wahre Geschwisterliebe.
Uns hat da der erste Kinderarzt der Kinder gerettet. Der hat denen erstmal gezeigt, dass das Otoskop nur leuchtet (erst durch seinen Finger, dann durch ihre), dann durften sie mal auf einen Finger durchschauen und danach war in die Ohren schauen auch bei Mittelohrentzündung nie wieder ein Problem.
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