Draußen strahlt die Herbstsonne in ihrer schönsten Pracht. Bunt ist das Blätterwerk, das zum Teil schon am Boden liegt. In vollen Zügen genossen habe ich die Radfahrt ins Krankenhaus heute früh, Bewegung an frischer Luft, das macht wach. Frisch und energiegeladen fühlte ich mich eben in der Übergabe und habe eifrig Notizen gemacht. Schließlich habe ich Lust, die Patienten kennenzulernen. Einiges gibt es heute zu erledigen für die Oberärztin; ich werde ihr in erster Linie folgen, zu fragil sind die Patienten hier, als dass ich als Studentin direkt viel selbst machen könnte.
Doch die Herbstsonne hat bei den dicken Außenjalousien keine Chance. Das Patientenzimmer ist abgedunkelt und ich kann durch die engen Jalousienschlitze den grandiosen Ausblick über die Stadt, den man von hier oben aus dem fünften Stock hat, nur erahnen. Denn die für unsere Patienten ist Sonne noch nichts.
Noah ist so winzig, dass ich es kaum wage, ihn zu berühren.
Seine Ärmchen dünner und zarter als meine kleinen Finger. Um sie festzuhalten, reicht es aus, sie vorsichtig zwischen Zeige- und Mittelfinger einzuklemmen, hat mir die Ärztin erklärt, der ich gleich bei der Blutentnahme assistieren werde. Und noch etwas haben wir soeben besprochen: Die Grundregeln der menschlichen Höflichkeit und Interaktion gelten auch hier. Bevor man einen Menschen anfasst, stehen Vorstellung und Begrüßung an. Das gilt auch für Frühchen. Schwester Lena ist gerade fertig mit der Morgenwäsche. Noah ist frisch gewickelt und wach; um die kleinen Patienten möglichst wenig zu stören, stimmen sich Pflege und Ärzte gut ab. Diese Regeln sind für die Entwicklung der Kleinen ebenso Therapiebestandteil wie medikamentöse oder apparative Medizin, das haben Studien gezeigt. Zeitlich ist das dennoch nicht immer einfach zu koordinieren, schließlich ist die Oberärztin für acht kleine Patienten zuständig. Heute passt es aber zum Glück, fliegender Wechsel. Wir treten an den Inkubator und begrüßen Noah.
Die Blutentnahme klappt auf den ersten Anhieb.
Als die Nadel ihren Weg findet, verzieht Noah sein kleines Gesicht. Ich zucke innerlich zusammen: wie universell auch auf dem Gesicht eines vier Tage alten, in der 27. Schwangerschaftswoche geborenen, nicht einmal 1.000g schweren kleinen Menschen Schmerz und Ärger abzulesen sind. Obwohl Noah keine Kraft hat, zu schreien, besteht kein Zweifel darüber, dass es ihm nicht gefällt, was wir gerade mit ihm anstellen.
Die Neonatologie ist ein extremes Fach: Intensivmedizin. Die jüngsten Patienten überhaupt. Eltern in einer Ausnahmesituation. Der ständige Grenzgang: Wie viel Therapie ist sinnvoll? Machen wir alles, weil wir es können, oder weil es das Beste für den Patienten ist? Dazu Kosten, über die man nicht nachdenkt in so einer Situation, die aber – mit etwas Abstand und gesundheitspolitisch betrachtet – irgendwie trotzdem im Raum schweben in einem System mit begrenzten Ressourcen.
In einem Gespräch mit Oberärztin, Chefarzt und zuständiger Krankenschwester werden Noahs Eltern darauf vorbereitet, dass die Lage sehr ernst ist. Momentan ist Noahs Zustand zwar stabil; das kann sich aber jederzeit noch ändern. Noahs Vater ist tapfer. Sie seien gläubige Menschen, nähmen ihren Sohn an, so wie er sei, und hofften auf das Beste. Im Gespräch wendet sich der Chefarzt auch an Noahs Mutter: ein Gespräch mit einer Psychologin sei jederzeit möglich, diese Situation für Eltern nun einmal unglaublich schwer. Noahs Mutter, die sich schüchtern lächelnd bisher ihren Schmerz nicht hat anmerken lassen, kommen beim Stichwort ‚Schuldgefühle’ die Tränen. Ja, so ein Gespräch sei wohl sinnvoll. Der Chefarzt nickt verständnisvoll. Er kennt die Gedanken die den Müttern im Kopf kreisen, genau: Warum hat es mein Körper nicht geschafft, meinem Kind lange genug Schutz zu geben? Hätte ich eher etwas merken können? Wäre alles anders gekommen, wenn ich früher bei Arzt erschienen wäre? Den Krankenwagen gerufen hätte?
Nach Feierabend freue ich mich erneut über das Herbstwetter und sogar den Wind, durch den ich mich kämpfe. Der ist super, um mir den Kopf freizupusten. Denn die Eindrücke waren heute erneut auf eine Art überwältigend. Schön, wenn Eltern in solchen Situationen Trost im Glauben finden und ein Schicksal als solches angenommen werden kann. Aber wann ist aus medizinischer Sicht der Zeitpunkt gekommen, ein Schicksal zuzulassen? Wann ist medizinische Therapie richtig und wann geht sie vielleicht auch zu weit?
‚Halbgott in weiß’. Ein Ausdruck, der mir bisher immer missfiel, erscheint mir heute in einem anderen Licht und viel ernster, als ich ihn bisher begriffen habe.