Eine Nummer zu groß?

Die Aufnahme von Monsieur S. ist für mich aus medizinischer Sicht relativ unbefriedigend. Ein komplizierter Patient, dessen Fall mich die Grenzen unserer Möglichkeiten in der Notaufnahme spüren lässt.

In den letzten Tagen habe ich gemerkt, dass es in der Notaufnahme ’schöner‘ ist, Patienten mit Problemen, die direkt zu lösen ist, zu behandeln. So wie Monsieur H.
Der war heute in den frühen Morgenstunden erschienen, mit einer Platzwunde am Hinterkopf. Die Geschichte dazu hatte mich und meinen Kommilitonen zwar etwas stutzig gemacht, „Mein Freund hat mir ’ne Flasche über den Kopf gezogen“ (was es doch für liebe Freunde gibt!), aber mit dem simplen Vermerk ‚Aggression unter Alkoholeinfluss‘ war der Krankheitsgeschichte in der medizinischen Dokumentation Genüge getan. Und die drei Stiche waren mir nach den Wochen in der Chirurgie nicht nur leicht von der Hand gegangen, sondern hatten zudem dem Patienten kaum Schmerzen bereitet. Somit hatten wir uns, beide zufrieden, sehr freundlich voneinander verabschiedet und einander alles Gute gewünscht. Er mir für meine weitere Ausbildung und ich ihm für seine Wunde am Kopf. (Und generell, Freundschaften und Alkohol zum Beispiel…)

Schwierige Patienten

Dem 22jährigen Monsieur S. kann ich nun nicht so schnell helfen, das ahne ich bereits während der Anamnese. Laut des Protokolls der Rettungskräfte hatte er letzte Nacht einen epileptischen Anfall. Der beschäftigt ihn allerdings nicht groß, er weist mich in erster Linie auf seine linke Hüfte hin, die ihm Schmerzen bereitet. Monsieur S. leidet an einer Neurofibromatose, Typ II. Bei dieser erblich bedingten Krankheit kommt es zu Entwicklungsstörungen von Haut- und Nervengewebe. Die bekannte Epilepsie des jungen Mannes ist auf einen Tumor im zentralen Nervensystem zurückzuführen, die Probleme mit der Hüfte hat er, seit er sich bei einem Anfall die Hüfte gebrochen hat und operiert werden musste. Ein Sturz? Genauer bekomme ich das nicht heraus und mein Kommilitone, mit dem ich heute gemeinsam die Patienten untersuche, winkt ab. Aus seiner Sicht werden wir es wohl auch nicht von dem Patienten erfahren. In dessen Akte ist nämlich zudem vermerkt, dass Monsieur S. sich geistig nicht normal hat entwickeln können und recht unreif und nicht besonders helle ist. (In den Akten ist das natürlich offizieller und klinischer formuliert, aber inhaltlich trifft es den Kern.) Dass eine Neurofibromatose ein Leben so sehr beeinflussen kann, war mir nicht bewusst. Mein Kommilitone schlägt vor, dass wir für die medizinische Vorgeschichte noch mal genauer in die uns vorliegenden Arztbriefe schauen und mit der restlichen Aufnahme und Untersuchung voranschreiten. In der Notaufnahme wird uns beigebracht, zeiteffizient zu arbeiten.

Weiter also zur sozialen Situation. Die lässt mich noch ratloser werden. Der junge Mann sitzt vor uns,  eindringlich schaut er uns aus seinen großen Augen an. Nun geht es um seinen epileptischen Anfall. Ob er seine Medikamente regelmäßig nehme? Nein. Warum nicht? Das sei nicht einfach, seit er auf der Straße lebe. Ich fühle mich plötzlich ganz klein. Irgendwie scheint der müde Blick aus den jungen Augen meines Patienten mir zu sagen, dass ich seine Situation sowieso nicht nachvollziehen werde können. Vermutlich sagt dieser Eindruck mehr über mich aus als über ihn, doch auch mein Kommilitone wird unsicher. Wir fragen noch etwas genauer und erfahren, dass die Medikamente Monsieur S. sehr unruhig werden lassen und dass er sie deshalb nicht nehme, weil er sich nachts zumindest in den Schlaf flüchten wolle. ‚Bitte‘, wendet er sich an uns, ‚ich bin müde, ich habe Schmerzen, ich habe Hunger. Könnt ihr mir nicht helfen?‘

Mit hängenden Schultern suchen wir unseren Oberarzt auf. Und die Reaktion, die wir befürchten, lässt nicht lange auf sich warten. Er lässt sich den Fall schildern und schaut noch mal genauer in die Unterlagen. Monsieur S. hat einen sozialen Vormund, die Vorbereitungen laufen, ihn in einer staatlichen Einrichtung unterzubringen. Betreutes Wohnen oder eine Art Heim, Vater Staat, der Menschen wie ihm in Frankreich unter die Arme greift, wird aktiv, nur etwas träge scheint seine Maschinerie anzulaufen. Unser Oberarzt spricht kurz selbst mit Monsieur S. und kommt dann zu uns zurück. ‚Ich schreib‘ ihm ein neues Rezept für die Medikamente gegen seine Epilepsie und dann sagt ihr ihm, dass er gehen muss. Mehr können wir momentan nicht für ihn tun. Seine Schmerzen an der Hüfte sind chronisch und wir sind kein Obdachlosenheim.‘

Helfen sieht doch irgendwie anders aus…?

Ich werde nicht so schnell die trotzig enttäuscht zusammengekniffenen Lippen von Monsieur S. vergessen, als wir ihm die Einschätzung unseres Oberarztes überbringen. Beide etwas verlegen, weil wir menschlich das Gefühl haben, nicht richtig zu handeln, nicht genug zu tun. Genauso werden mir die Papierschnipsel, das zerrissene Rezept, das uns der junge Mann, der in einem anderen Leben vielleicht mit uns studiert hätte, fast verächtlich vor die Füße flattern lässt, im Gedächtnis bleiben.

‚Das ist ja nett! Da hilft man den Leuten und so danken sie es einem!‘, kommentiert unser Oberarzt wütend, als wir ihm kleinlaut berichten, was unser Patient von seiner Behandlung hält. ‚Dann eben nicht! Ich kann nur tun, was in meiner Macht steht. Und ihr auch. Alles klar? Und jetzt geht ihr in Zimmer 4 zu Monsieur P., Verdacht auf Leistenbruch, das sollte jeder Student mal gesehen und untersucht haben.‘

Und weiter geht’s

Ein Arzt behandelt keine Krankheiten, sondern Patienten ist irgendein weiser Spruch. Dem stimme ich intuitiv auf jeden Fall zu. Nur was, wenn die Patienten Probleme haben, die viel mehr und größer sind als ihre Krankheiten? Und die man eigentlich behandeln müsste, damit es ihnen besser oder sogar gut geht? Ein Krankenhaus und insbesondere die Notaufnahme ist in unserer Gesellschaft nicht zuständig für soziale Probleme dieser Art. Meinem Kommilitonen und mir war heute nicht wohl in unserer Haut. Unser Oberarzt hat schon ein dickeres Fell. Oder einfach gelernt, seine Arbeit realistisch zu sehen, die begrenzten Ressourcen und Kapazitäten; und sich auf die Probleme zu konzentrieren, die er als Arzt lösen kann.

Während ich in meinen Praktika auf den verschiedenen Stationen durchaus immer wieder mitbekommen habe, wie Ärzte sich intensiv damit auseinandergesetzt haben, in welche Verhältnisse ihre Patienten nach ihrer Entlassung zurückkehren und sich – soweit nötig – für ihre Patienten eingesetzt und soziale Stellen informiert, Betreuung organisiert oder Hilfe beantragt haben, ist dafür scheinbar in der Notaufnahme wirklich kein Platz. Zu hoch ist der Durchlauf an Patienten, zu sehr ist man bereits damit beschäftigt, alle Wartenden im Hier und Jetzt zu behandeln, zu oft wechseln die Teams – als dass noch Raum wäre für alles, was über die unmittelbare medizinische Notsituation hinausgeht.

Noch eine Weile grübele ich über das Schicksal von Monsieur S. nach. Zu lange aber auch wieder nicht. Denn es warten ja schon wieder die nächsten Patienten. Und zu meiner Erleichterung gelingt es uns, so einigen von ihnen besser zu helfen als unserem jungen Patienten von heute früh.

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2 Gedanken zu „Eine Nummer zu groß?

  1. Interessanter Fall. Mir stellt sich die Frage, was hat der Pat. vom KH erwartet: Schmerzabklärung? Schmerztabl.? Essen und Bett?
    Als Ärztin hilft man nicht unbedingt, man untersucht und behandelt – nicht immer erfüllt dies die Erwartungen.
    Wichtig ist aus meiner Sicht: keinen abwendbar gefährlichen Verlauf (AGV ist ein Begriff aus der Allgemeinmed.) wie z.B. eine Fraktur übersehen und dann ein Behandlungsangebot (z.B. Medik.) machen. Dann ist das Ärztliche getan, das Menschlich Mögliche geht natürlich darüber hinaus – aber das ist nicht Sache der Notaufnahme.

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