Von FFIs und Arbeitsbedingungen

Unser Assistenzarzt Ivan ruft uns zurück. ‚Nein, ihr bleibt erstmal hier. Ihr könnt später zu den Patienten gehen. Ich bereite die Entlassungen vor und dann kommt ihr mit und wir machen gemeinsam die Verbandswechsel. Habt ihr Musik dabei? Das macht das Arbeiten angenehmer!‘ Mein Kommilitone Nico grinst Ivan zu und stöpselt sein iPhone an die Lautsprecher. Meine Kommilitonin Chloé rückt mir einen Stuhl zurecht. Nach einer kurzen Kaffeepause in der Kantine geht der Vormittag also heute entspannt weiter. Das Büro der Assistenzärzte kann man nicht gerade als gemütlich bezeichnen. Immerhin gibt es eine Liege. Diese ist nicht offiziell als Schlafplatz für den Assistenten der Nachtschicht gedacht (dafür auch zu kurz und zu hart), wird aber aus praktischen Gründen trotzdem oftmals als solcher zweckentfremdet, wie Ivan erklärt hat. Denn das für den Assistenten vorgesehene Bett ist in einem anderen Gebäude, und das bedeutet mehr Weg- und weniger Schlafenszeit. Und die ist kostbar. Zwei Schreibtische stehen an der Wand, ziemlich viel Papier liegt rum, Notizen und Arbeitsanweisungen sind mit Patientenetiketten an die Wand geklebt. Auf der kleinen Garderobe lastet schwer das Gewicht von Jacken und Taschen der fünf Assistenzärzte.

Aushilfen in der Medizin

Ivan ist Assistent in der Bauchchirurgie, wobei er nicht in Frankreich studiert hat, sondern in Rumänien. Er ist bereits im vierten Jahr seiner Ausbildung, die ersten drei Jahre hat er in Rumänien absolviert. Jetzt hilft er in Frankreich aus, zu schlechteren vertraglichen Bedingungen als die Franzosen (beziehungsweise die in Frankreich Studierten). ‚FFI‘ werden Ärzte wie er genannt, die entweder aus dem Ausland kommen oder den Sommer zwischen Examen und erster Stelle nutzen, um unverbindlich auszuhelfen. ‚Faisant fonction d’Interne‘. Er übernimmt die Stelle eines französischen Assistenzarztes, ohne selbst den vollen Status zu haben. Solche Stellen werden vergeben, wenn sich kein französischer Arzt für den Platz beworben hat.

Der breitschultrige junge Mann mit den sanften, ziemlich eng stehenden Augen ist fertig mit seinen Entlassungen und nimmt uns mit zu seinen Patienten. Auf dem Flur wird er von einer Schwester aufgehalten und gibt uns ein Zeichen, noch mal kurz in das Büro der Assistenzärzte zu gehen und auf ihn zu warten. Dort werden wir diesmal ganz anders begrüßt: Statt als willkommene Amateur-DJs empfängt uns Enzo, ein italienischer FFI, wie ungebetene Gäste. Mürrisch murmelt er uns eine kurze Begrüßung zu und dreht sich kaum um, als wir den Raum betreten. Und als Nico flüsternd einen Witz macht und Chloé nicht anders kann, als kurz aufzulachen, explodiert er förmlich. ‚Das geht hier gar nicht! Was soll das?! Das hier ist das Arbeitszimmer der Assistenzärzte! Wieso seid ihr überhaupt reingekommen und woher kennt ihr den Code für die Tür?!‘ Ziemlich vor den Kopf gestoßen ziehen wir uns zurück. ‚Ok‘, flüstert Nico uns zu, ‚dann also keine Musik mehr.‘

Willkommen in der Hyierarchie-Pyramide der Uniklinik

Ich habe Enzo schon des Öfteren im OP erlebt. Und fast jedes Mal war der Tonfall rau. Wirklich einschätzen kann ich seine operativen Fähigkeiten nicht. Aber besonders gekonnt sahen seine Handgriffe nicht aus. Und seine Oberärzte waren fast nie zufrieden mit seiner Arbeit. Insofern liegt der Verdacht nahe, dass Enzo auch heute früh schon einen Misserfolg hatte, auf den Deckel bekommen hat und seinen Unmut nun an uns weitergibt.

Frankreich bildet zu wenig eigene Ärzte aus. Genaue Zahlen sind mir dazu nicht bekannt, aber eine Kommilitonin hat mir erzählt, dass die Ausbildungsrate seit Jahren nicht gestiegen ist, bei einem wachsenden Bedarf an Ärzten. Die Plätze, die durch FFIs besetzt werden, sind die Plätze, die die jungen Franzosen selbst nicht wollen. Und das hat seinen Grund: Oft sind die Stellen aus guten Gründen unbeliebt, weil ganz besonders arbeitsintensiv (wie die Bauchchirurgie in meinem Krankenhaus), mit einem schwierigen Arbeitsklima, oder vom Patientenspektrum sehr spezialisiert. (Was zum Beispiel für angehende Hausärzte ungünstig ist: wer ein halbes Jahr in der Neurologie verbringt, um sich fortzubilden, möchte möglichst ein breites Spektrum an Fällen und Patienten sehen.) Hier in der Chirurgie kommt es nicht selten vor, dass Assistenzärzte auch nach ihrem Nachtdienst noch bis mittags operieren. Ein hochgradig illegales Vorgehen und aus Medizinersicht verständlicherweise ausgesprochen unattraktiv.  Derartige Stellen werden also oft durch FFIs besetzt. Und diese haben es besonders schwer: sie müssen sich doppelt anstrengen, um das von ihnen geforderte Arbeitspensum zu bewältigen. In einer Fremdsprache und mit weniger Erfahrung in französischen Krankenhäusern als die Internes. Die Frustration ist groß. Nur gut, dass man sich in Frankreich zwischendurch zumindest entspannte Kaffeepausen gönnt, in denen ein bisschen Dampf abgelassen werden kann.

Wünschenswertes…

  • weniger Stress durch bessere Arbeitsbedingungen.
  • besser lernen, mit der Belastung umgehen.

Insofern habe ich großen Respekt vor den Internes und den FFIs und dem, was sie im Alltag leisten. Doch Leute, die Druck von oben direkt nach unten weitergeben, sind mir unsympathisch. Leicht ist es sicherlich nicht, das immer zu vermeiden. Aber es wäre sehr wohltuend für das allgemeine Arbeitsklima, wenn sich jeder ein anders Ventil suchen würde, um Stress loszuwerden. Das betrifft auch die Oberärzte, die ihre Assistenten vermutlich zum Teil auch deshalb so streng behandeln, weil sie selbst übermüdet sind durch die ständigen Nachtdienste und die nie endenden Überstunden. Doch statt Kollegen, die sich untereinander die Stimmung verderben, bräuchte es strukturelle Veränderungen: Mehr Stellen, mehr Studienplätze, ausländische Ärzte, denen anfangs eher weniger abverlangt wird als mehr (so lange, bis sie eingearbeitet sind und über ausreichende sprachliche Kenntnisse verfügen). Nicht zum ersten Mal regt sich in mir der revolutionäre Geist. Denn irgendwie – so hoch spezialisiert und erfolgreich sie auch ist – krankt unsere Medizin doch an vielen Enden, wenn die ihr Dienenden körperlich und psychisch einen solch großen Preis zu zahlen haben. Und das, obwohl an sich sehr viel Geld im System steckt. In Frankreich gab es letzte Woche die zweite Meldung über eine junge Ärztin, die sich das Leben genommen hat. Das ist dramatisch und schrecklich und mit Sicherheit multikausal und nicht nur auf die Herausforderungen im Job zurückzuführen. Aber ein kleines bisschen vielleicht doch. Und dieses kleine bisschen wäre schon zu viel.

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3 Gedanken zu „Von FFIs und Arbeitsbedingungen

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