Ich habe großen Gefallen an den ‚vélibs‘ gefunden, den Pariser Stadtfahrrädern. Nie zuvor habe ich von einem öffentlichen Fahrradsystem so viel Gebrauch gemacht wie hier. Und jedem, der Paris besucht, möchte ich es bestens ans Herz legen, die Stadt auf diesem Wege zu erkunden, insbesondere an den verkehrsarmen Sonn- und Feiertagen. Oder auch an einem lauen Sommerabend. So wie ich gestern.*
Zu behaupten, Paris zu kennen, wäre gewagt. Denn wer kennt schon Paris, mit seinen unzähligen schönen Straßen, netten Ecken, einladenden Terrassen, sehenswerten Läden? Seinen so unterschiedlichen Vierteln, seinen Menschen aus aller Herren Länder? Immer wieder fahre ich bewusst einen Umweg oder lasse mich nur grob in die Himmelsrichtung treiben, in die ich will, um noch ein kleines bisschen mehr zu entdecken. Und fast jedes Mal komme ich ins Staunen und in Verwunderung, wie es nur sein kann, dass ich dies oder das erst jetzt entdecke. Mittlerweile verbunden mit dem wehmütigen Gedanken, dass ich meine imaginäre ToDo-Liste, die ich seit Beginn meines Aufenthaltes aufstelle, bis zu meiner Rückkehr längst nicht werde abarbeiten können.
Place de la République, Canal St. Martin, Place de la Bastille
Der Weg zum Place de la République ist mir mittlerweile wohl bekannt. Es erwartet mich ein buntes Treiben. Dort, wo bis vor kurzem noch Anhänger der Bewegung ‚Nuits Debouts‘ ihre Zelte aufgeschlagen haben, hat die Stadt eine Half-Pipe für Skater aufgebaut, über die sich die Jugend freut. Direkt daneben ein knappes Dutzend Paare, die sich sehr elegant und ungewohnt rhythmisch im Takt bewegen. Für Salsa zu getragen. Was könnte es sonst sein? Auf dem Poloshirt einer der Tänzer steht ‚Kizomba‘. Hab ich schon mal von gehört, kenne ich aber nicht. Ob es das ist? Sieht so aus, als müsse ich es mal ausprobieren!
Neben dem Kanal gibt es einen abgetrennten Radweg, sehr angenehm. An einer roten Ampel wartend halten rechts von mir zwei Polizisten auf ihren Motorrädern. Gedankenlos schaue ich an ihnen herauf und wundere mich etwas über die Uniformen, denn die enge dunkelblaue Hose und die eleganten schlanken Stiefel, die bis kurz unter die Knie gehen, erscheinen mir recht weiblich und erinnern zudem an Reiter. Aber Uniformen sind manchmal scheinbar etwas sonderbar, das habe ich neulich bei der Parade zum Nationalfeiertag auch schon bemerkt. Grün, weiter geht’s. Kurz vor dem Place de la Bastille fahre ich an einer Gruppe Zigeuner vorbei. Ich weiß, das ist politisch wohl die unkorrekte Bezeichnung, aber für die Gruppe an Frauen, Männern und vielen Kindern, ärmlich gekleidet, aber soweit gepflegt erscheinend, fällt mir kein passenderer Begriff ein. Und ihre ethnische Zugehörigkeit kann ich nur erahnen. Sie scheinen sich relativ gut auf ein Leben auf der Straße (?) eingestellt zu haben. Soweit das halt möglich ist, mitten in der französischen Hauptstadt. Zwei Frauen machen sauber und kehren die Blätter auf dem Bürgersteig, auf einer Decke sitzt eine Gruppe von Männern, umringt von Kindern, sie scheinen ein Spiel mit Münzen zu spielen. Oder auch um die Münzen? Daneben liegen zwei drei schmutzige Matratzen, ein Einkaufswagen ist mit ein paar Habseligkeiten gefüllt. Nicht nur die Dichte an Cafés, auch die an Obdachlosen ist in Paris höher als anderswo.
Promenieren an der Seine
Als ich die Seine erreiche, wechsle ich die Flussseite und bin nun am südlichen Ufer. Die Stimmung ist fantastisch. Das Hochwasser, das die Promenade vor zwei Monaten noch mit Dreck und Schlamm überschwemmt hat, ist längst vergessen. Überall sitzen Menschen beisammen, mit Baguette, Wein, Rohkost und Dips, manchmal auch noch deliziöser: Sushi. Die kleinen Buchten, halbrunde Terrassen, zu denen Treppenstufen herabführen wie in einem Mini-Kollosseum, bieten ausreichend Platz und Sitzgelegenheiten auch für Leute mit etwas steiferem Rücken. Und wiederum: Tolle Tanzflächen. In der ersten Bucht gefühlvoller Tango, in sich versunken lassen sich die Paare von der Musik leiten. Deutlich lebhafter tummelt sich in der nächsten Bucht eine jüngere Generation: Salsa! Die ungeheuer lebensfrohe Energie ist ansteckend, Schaulustige haben sich hier zuhauf versammelt. Die untergehende Sonne schmeichelt den entspannten und glücklichen Gesichtern. Wie schön Leute mit einem Lächeln auf den Lippen doch sind.
Das Fahrrad mittlerweile abgestellt, schlendere ich weiter auf der Uferpromenade. Nicht nur neben, auch auf der Seine ist viel los, Touristen-Rundfahrten, Flusskreuzfahrtschiffe, Partyboote. Notre Dame, Louvre, Musée d’Orsay. Die Uhr schlägt zehn. (Ob es die des ehemaligen Bahnhofsgebäude und jetzigen Impressionisten-Museum ist? Möglich wäre es.) Der funkelnde Eiffelturm. Zu jeder vollen abendlichen Stunde glitzert er ganz wunderschön. Im Parc des Tuileries wird es langsam dunkel. Auf dem Hauptweg sind noch viele Leute zu sehen, rechts und links davon, in den tagsüber so angenehm ruhigen Ecken, überschattet durch Bäume und mit Beeten verziert, ist es schon leerer. Das Riesenrad am Place de la Concorde ist in den Nationalfarben beleuchtet. In Deutschland käme mir das seltsam vor, hier finde ich es schön. Liegt es an den Farben oder meinem (dem deutschen) Verhältnis zu unserer Nation?
Vergnügungsstimmung im Parc des Tuileries
Auch Richtung Rue de Rivoli schimmern bunte Farben hervor, erregte, aufgeregt-ängstlich juchzende Schreie wehen herüber. Ein Jahrmarkt! Was in so mancher Kleinstadt eine der Attraktionen des Jahres ist, geht in Paris angesichts der zahlreichen Veranstaltungen und Angebote fast unter. In mir kommen Kindheitserinnerungen hoch. Nur dass ich hier zum ersten Mal sehe, das in einer dieser Maschinen, aus denen man mit Glück und einer Zange einen hässlichen rosa Teddy oder auch Pikachu (ein Pokémon) oder ‚Sid‘ (aus Ice Age) herausholen kann, mittlerweile auch Apple-Produkte zu holen sind. Die beiden Männer, die sich daran versuchen, scheitern trotz genauester Planung kläglich. Und noch ein Unterschied: in Frankreich gibt es eher Crepes als Schmalzgebäck. Doch Geisterbahn, Gruselkabinett, das Haus der Verrückten, Wildwasserbahn, das scheint mir unverändert seit meiner Kindheit und in Frankreich genauso wie in Deutschland.
Langsam bin ich müde. Der Tag war lang und mein nächtlicher Rundgang ist größer geworden, als ich es vorhatte. Um den schnellsten Weg nach Hause zu finden, werfe ich einen Blick auf meine App. Und natürlich, vorgeschlagen wird mir das vélib. Nur eine Straße sind genügend geparkt, direkt vor meiner Haustür sind Plätze zum Abstellen frei. Also schwinge ich mich erneut aufs Rad und genieße es, durch die hübsch beleuchteten Pariser Straßenschluchten zu fahren.
*Ein paar praktische Infos: Eine Tageskarte kostet 1,70€, dafür kann man 24 Studenten lang für jeweils 30 Minuten lang ein Fahrrad ausleihen und es an einer anderen Station wieder abgeben. Wenn man diese Zeit überschreitet, zahlt man etwas mehr. Zum Ausleihen ist eine Kreditkarte erforderlich. Aber es ist ganz einfach, also bloß keine falsche Scheu!