Mein Mitbewohner aus Erasmus-Tagen steckt seinen Kopf durch die Tür. Er hat mitbekommen, wie ich mich gerade lautstark gereckt und gestreckt habe, überrascht darüber und gleichzeitig dankbar, im lichtdurchfluteten Wohnzimmer so lange ausgeschlafen haben zu können. Er muss bald los, ich bin gerade noch pünktlich wach geworden für ein gemeinsames Frühstück. L. nimmt meine Bestellung auf, ich wünsche mir un pain au chocolat und une tradition (ein etwas besseres Baguette) s’il te plaît und beeile mich, mich und die Couch fit zu machen, um zumindest auf diese Art auch ein wenig beizutragen.
Einen neuen Bäcker gibt es seit kurzem direkt um die Ecke, der sei letztes Jahr sogar ausgezeichnet worden als einer der besten in Frankreich, erzählt L. Die Mitarbeiter trügen seitdem kleine Macarons in bleu-blanc-rouge am Kragen. Das amüsiert mich sehr, aber ich muss zugeben: das knusprige Pain au Chocolat ist tatsächlich délicieux.
Quel bonheur!
Später schlendere ich durch die Nachbarschaft. Ohne dass ich es im einzelnen benennen könnte, stelle ich fest: es hat sich einiges verändert. Ein paar neue Läden sind entstanden, die Rue des Martyrs im 9ème wird immer schicker. Noch schaue ich vor allem; beim nächsten Besuch habe ich vielleicht ein Ärzte-Budget und kann auch mal was kaufen. Aber ob ich dann überhaupt noch komme? Oder an einem kurzen zwei-Tage-Wochenende Lust habe, shoppen zu gehen in Paris, wo es doch so viele andere Dinge zu tun gibt?
Auch einige neue Beete gibt es, die die ohnehin schon sehr pittoreske Straße weiter aufwerten. Aber was war hier bloß vorher, Parkplätze? Wieder einmal denke ich darüber nach, wie sich das Stadtbild im Positiven verändern würde, wenn nicht jeder seine eigene Karre irgendwo stehen hätte.
#fahrradstadt
B., die zweite Mitbewohnerin aus meiner Pariser Zeit (und ja, das soll genau so prätentiös klingen, wie es zumindest in meinen Ohren klingt, wobei auch ein bisschen Selbstironie mitschwingen darf), verdreht etwas die Augen, als ich ihr begeistert von den Beeten erzähle und auch von einem riesigen Zirkus-Wandbild, das zwei Künstler im oberen Teil der Straße gerade an eine ehemals trist-schmutzige Wand pinseln. Es seien bald Wahlen, jetzt gebe man sich Mühe, um einen guten Eindruck zu schaffen, erklärt sie mir. Das solle aber nicht hinwegtäuschen über andere Probleme; ob mir zum Beispiel aufgefallen sei, dass noch ein Stück oberhalb die nette kleine Bar an der Ecke (in der es für Pariser Verhältnisse außerordentlich günstiges Bier gab und vor der die Leute auf umgedrehten leeren Getränkekästen saßen und Schach und Backgammon spielten) nicht mehr gäbe? Gentrifizierung ist selbst in den schicken Teilen von Paris weiterhin möglich.
Tatsächlich, als ich am nächsten Tag an besagter Ecke vorbeigehe, erinnere ich mich umso besser an die kleine Bar. Und sehe nun, was hier stattdessen entstanden ist: Ein Yogastudio. Und obwohl ich selbst ziemlich begeistert bin von dieser indischen Lebensphilosophie, sehe ich ein, dass ein Kurs für 22€ nicht zu vergleichen ist mit einem Getränk unter Freunden und einem Spieleabend auf der Straße.
#nachbarschaft
Noch weiter unten ein Anblick, der mich noch mehr trifft. Die Frau da an der Ecke kenne ich. Die saß auch vor drei Jahren schon immer vor genau dieser Bäckerei. Ja, die Rue des Martyrs ist schöner geworden insgesamt. Aber auch teurer. Und weiterhin leben hier Menschen auf der Straße.
Ich weiß, dass es nicht so einfach ist. Aber ich persönlich würde gern ein bisschen auf diese Schönheit verzichten, und stattdessen sehen, dass von der Gesellschaft abgehängten Menschen ein würdiges Leben ermöglicht wird.