Mein Gastvater ist Arzt. Mein ‚großer‘ Gastbruder studiert im ersten Semester Medizin. Meine Gastschwester besucht die elfte Klasse und möchte Medizin studieren. Wie der Zufall es so wollte, wohne ich während meines PJ-Tertials auf Bali bei einer Arztfamilie.
Der Gastvater
Dr. Agung ist Kinderarzt. Jeden Tag arbeitet er von 10 bis 12 Uhr in einem Krankenhaus, dann folgt die Mittagspause. Von 13 bis 16 Uhr hat er Dienst in einem zweiten Krankenhaus. Dann kommt er nach Hause und ruht sich aus, bevor er in seine Privatpraxis fährt, in der er von 18.30 bis 21.30 Uhr Sprechstunde hat. Von montags bis samstags sind seine Tage so getaktet, wobei am Samstag der Dienst im zweiten Krankenhaus wegfällt. Sonntags hat er frei.
Als Facharzt verdient Dr. Agung damit gut, er hat ihr ein schönes Haus auf Bali bauen können, auf einem 800 Quadratmeter großen Grundstück. Als das zweite Kind sich ankündigte, wurde es ihm und seiner Frau vor 15 Jahren von seinem Vater zugeteilt, die Familie besaß Land mitten in Denpasar, ein kostbares Gut. Zwei Haushaltshilfen kochen, waschen und halten das Haus und den Garten sauber. Oft sitzen drei Generationen zusammen und erholen sich von der Hitze und langen Arbeits- und Schultagen. Der 14-jährige Neffe Wahyu von Familie Agung wohnt unter der Woche hier, denn von hier hat er es nicht so weit zur Schule. Gung Ka, Dr. Agungs Vater, ist 80 Jahre alt und gut in form. In Indonesien wird man noch im Kreise der Familie alt. Die Kinder der Hausmädchen sind auch oft da und spielen auf dem Hof. In Familie Agungs Haus ist Leben. Strukturen einer Großfamilie, wie ich sie in Deutschland allemal zu Weihnachten versammelt sehe, aber im seltensten Fall im Alltag. Ganz in der Nähe wohnen weitere Verwandte.
Als ich am zweiten Tag meinen Motorroller ausprobieren will und erkläre, dass ich vor einigen Jahren zwar schon viel gefahren bin, aber mich erst einmal wieder an das Fahren und vor allem den dichten Verkehr gewöhnen müsse, schickt Dr. Agung kurzerhand Wahyu los, um mit mir auf einem Platz in der Nähe zu üben. ‚Lass sie dort ein paar Runden fahren und schau es dir mal an‘, weist er ihn an. Obwohl ich Wahyu vertraue, kommt mir der kurze Weg von zehn Minuten, als Motorroller-Mitfahrerein eines schmalschultrigen kleinen indonesischen Jungen (der mindestens 20kg weniger wiegt als ich), gefährlicher vor, als wäre ich selbst direkt vor der Tür auf und ab gefahren. Aber alles geht gut und nach ein paar Runden auf dem Platz sage ich Wahyu, dass ich mich sicher genug fühle. Zurück lasse ich ihn aber erneut fahren – mit Mitfahrer, auch wenn es nur ein 14-jähriger ist, dafür ist es noch zu früh für mich. Kurz darauf breche ich allein auf, um noch ein bisschen weiter zu üben, und bin gerührt, als mir Dr. Agung mehrfach mitgibt, ich solle ‚pelan-pelan‘, also schön langsam und ‚hati-hati‘, vorsichtig, fahren. Man gibt hier sehr gut auf mich acht.
Der Gastbruder
Gung Wa ist 18 Jahre alt und sehr fleißig. Er studiert auf Bali Medizin – einen Studienplatz in Yogyakarta hat er abgelehnt, zu weit weg sei das, er fühle sich wohl auf Bali. Er hat Glück, dass seine Eltern ihm das Studium finanziell ermöglichen können. Zur Immatrikulation war an seiner Uni eine Gebühr von 500.000.000 Rupiah fällig, umgerechnet mehr als 30.000€. Pro Semester fallen weitere Kosten von 10.000.000 Rupiah, ca. 1.200€, an. Ob seine Eltern ihm ein Medizinstudium nahe gelegt hätten? Gung Wa schüttelt den Kopf. Er wolle das selbst auch und seine Eltern unterstützten ihn halt dabei. Vermutlich ist es wie in Deutschland auch: Ärzte, die mit ihrem Beruf zufrieden sind und ihren Kindern außerdem eine sichere Zukunft wünschen, ermutigen sie durchaus, den selben Weg zu gehen. Warum auch nicht? Den eigenen Beruf kennt man schließlich am besten.
Nach der Uni wird Gung Wa zu dem Jugendlichen, der er ist. Er chillt auf der Couch, schaut Fernsehen, lässt sich von seiner Mutter und den Hausmädchen verwöhnen. Abends kommen seine Kumpels vorbei und holen ihn zum Futsal (Hallenfußball) ab.
Die Gastmutter
Ibu Yuni fragt mich aus, was Ärzte in Deutschland verdienen, wie teuer das Studium ist, wie die Jobaussichten. Als ich erzähle, dass es in Deutschland keine Studiengebühren gibt und man schon als Assistenzarzt ein Gehalt bekommt, horcht sie auf. In Indonesien werden die Assistenzärzte weiterhin als Studenten angesehen und zahlen sogar Studiengebühren. Dass sie den Großteil der Arbeit in den Unikliniken übernehmen, spielt dabei keine Rolle. Erst als Facharzt – nach mindestens 11, eher 12 Jahren Ausbildung und Studium – gibt es einen Lohn. Der ist dafür für indonesische Verhältnisse mit einem Einstiegsgehalt von 15.000.000 Rupiah (ca. 930€) aber recht ordentlich.
Später kommt Ibu Yuni mit alten Fotoalben vorbei. Ob ich Fotos von früher sehen wolle, als die Kinder noch klein waren? Ich bin amüsiert, eben noch die ehrgeizige und geschäftstüchtige Frau, nun ganz die stolze Mutter. Im Endeffekt finden sich im Fotoalbum allerdings vor allem Fotos aus der Zeit, bevor sie und Dr. Agung Kinder hatten – ’schau mal, wie dünn ich damals war!‘, ruft sie bei jedem zweiten Bild und lacht.
Die Gastschwester
Gung Tia ist 16 Jahre alt und kommt heute in Sportklamotten von der Schule. Weil ihr großer Bruder Gung Wa mir gestern erzählt hat, dass seine Schwester Basketball spiele, frage ich, ob sie gerade vom Training komme. Nein, sagt sie, das pausiere sie gerade, sie hätte nur Schulsport gehabt. Für Basketball sei momentan keine Zeit, sie müsse sich auf die Schule konzentrieren. Ihre Noten seien momentan nicht gut genug, um Medizin studieren zu können, das müsse sich noch ändern.
Später fragt sie mich, wie es ist, für einige Zeit im Ausland zu leben. Sie selbst wolle auch gern mal an einem Schüleraustausch teilnehmen, für einen Monat nach Australien oder so, bisher habe ihr Vater das aber nicht unterstützt. ‚Er will auf mich aufpassen‘, erklärt sie mir etwas schüchtern grinsend. Unsicher, ob sie den Beschützerinstinkt des Vaters noch gut oder schon einschränkend empfinden soll? Ich erzähle ihr von meinem ersten Auslandsaufenthalt in England, mit 16. Sie bekommt große Augen. Für ein ganzes Jahr, nur in den Ferien zurück? Ich gebe zu, dass das für mich auch ganz schön schwer war damals. Und dass ich es leichter hatte, weil ich zusammen mit meiner Schwester unterwegs war. Sie lacht laut auf, als ich berichte, wie sehr ich anfangs dennoch Heimweh hatte und eine Woche lang ständig geheult hätte. Ja, so würde es ihr bestimmt auch gehen. Nein, wenn sie mal ins Ausland gehe, dann erst so mit 25 oder 30. Da muss ich grinsen. In einer fast unvorstellbar fernen Zukunft also. (Du wirst schon sehen, dass die Zeit schneller vergehen wird, als du denkst, Madame!)
Aus Spaß schlage ich Gung Tia vor, nach Deutschland zu kommen zum Studium, falls es in Indonesien nicht klappt mit dem Studienplatz für Medizin. Im Kopf überschlagen kostet es gar nicht so viel mehr als das Medizinstudium in Indonesien, ihre Familie könnte es sich also leisten. Statt der Studiengebühren wären es die Lebenshaltungskosten, die höher wären, aber insgesamt liefe es in etwa auf das gleiche hinaus. Und trotz Studienkolleg und Deutschkurs würde sie früher für ihre Arbeit bezahlt werden.
Gung Tia schüttelt lachend den Kopf. Nein, das klingt nach einem viel zu großen Plan. ‚Als Tourist sehr gern! Aber leben will ich in Indonesien.‘ Ich verstehe sie gut. So richtig auswandern wollte ich selbst schließlich auch nie.
Der kleine Gastbruder
Ob Gung Agra auch Arzt werden will, weiß ich noch nicht. Er ist 14 Jahre alt, wie sein Cousin Wahyu. Allerdings ist er kleiner und etwas kompakter gebaut als dieser, kommt also ganz nach seinen Eltern. Das hält seine Mutter dennoch nicht davon ab, ihrem Sohn nahezulegen, schön viel Basketball zu spielen, um zu wachsen…
So schön es auch immer wieder ist, ein neues Land und eine andere Kultur kennenzulernen – Heimat bleibt Heimat.
Und so warmherzig ich auch aufgenommen werde im Kreise dieser balinesischen Familie – irgendwie fehlt mir gerade bei diesem herzlichen Umgang meine eigene.