Die Aufgabe eines Notarzt hat eine Sonderrolle in der Medizin. (Das stelle ich jetzt einfach mal in den Raum – Kommentare und andere Meinungen willkommen. Doch lasst mich erklären.)
Einerseits geht alles ziemlich fix und es kann keine Rücksprache mit Kollegen gehalten werden. Keine Zweitmeinung. Nur alles Aufnehmen – Situation, Anamnese, Messwerte – Nachdenken, Diskutieren mit den Kollegen vom Rettungsdienst – aber letztlich: selbst entscheiden und zwar direkt. So oft gibt es das nicht: Chirurgen sind in kritischen Situationen – so wie ich es erlebt habe – meist nicht allein, sondern ärztliche Kollegen um sich. Assistenzärzte haben ihren Oberarzt, Oberärzte ihre Oberarztkollegen oder Chef, mit am Tisch oder zumindest telefonisch am Ohr. Auf Station hat man meist mehr Zeit und ist typischerweise Entscheidungen werden ebenfalls im Team getroffen. Hausärzte sind meist auch allein; können sich bei Bedarf allerdings den Rat eines Kollegen holen oder im Zweifelsfall den Patienten zu einem Facharzt weiterschicken – oder akut in ein Krankenhaus einweisen und ggf. sogar den Notarzt rufen, so dass dieser den Patienten weiter betreut.
Ansonsten ist die Situation generell weniger zeitkritisch. Schritt für Schritt wird vorgegangen, Anamnese, Diagnostik und Einleitung einer Therapie, die auch wieder angepasst werden kann.
Manchmal beschweren sich die Notärzte und Rettungsteams darüber, dass ihre Klinik-Kollegen gar keine Ahnung davon haben, was sie da draußen leisten.
Obwohl ich nach einigen Diensten, die ich im Rahmen eines Praktikums begleitet habe, mitbekommen habe, dass eine gewisse Routine auch hier besteht (schließlich gibt es gewisse ‚Dauerbrenner‘: Akutes Koronarsyndrom, Apoplex, COPD Exazerbation) ist doch jedes Mal etwas anders. Und zu den ärztlichen Aufgaben kommen Herausforderungen, die man im Krankenhaus eher nicht kennt: Wie bekommen wir den geschwächten 90kg Patienten mit Atemnot heil aus dem zweiten Stock durch das schmale Treppenhaus? Den alten Mann die selbstgezimmerte Treppe aus dem ausgebauten Dachgeschoss eines Altstadthauses? Oder der junge Mann mit tiefer Schnittverletzung im Unterarm und kritisch-niedrigem Blutdruck (ein Bild, was ich auch nach einem halben Jahr lebhaft in Erinnerung habe): natürlich war dem Rettungsteam klar, dass er nicht auf einem Stuhl hätte sitzen sollen während Anamnese und Erstversorgung, sondern besser in Rückenlage hätte stabilisiert werden müssen. Aber das war schlicht nicht möglich in dem engen Flur der kleinen Wohnung, der von Scherben übersät war.
Start ins Ungewisse
Jedes Mal begibt sich das Team aus dem vertrauten (und sicheren) Bereich der Klinik bzw. Rettungswache nach draußen, in das wahre Leben. In vollgestellte und ungepflegte Wohnungen, ein Männerwohnheim in prekärem Zustand, auf die Straße. In ein großes gemütliches Wohnzimmer, zum Sommerfest auf die Terrasse einer Großfamilie auf dem Land. Spannend ist das, manchmal etwas beunruhigend. Definitiv: Die Realität. Wie es ein Arzt neulich ausgedrückt hat: In diesem Beruf bekommt man einen tiefen Blick in die Gesellschaft; einen sehr tiefen.
Recht hat er. Und besonders tief ist dieser Blick, wenn man Praxis oder Klinik verlässt: bei Hausbesuchen und Notarzteinsätzen.
RTL II braucht hier keiner mehr, um einen Blick in fremde Wohnzimmer zu werfen.