Die kleine Straße, die fast schon als Gasse durchgeht, kenne ich gut. Direkt habe ich das Kopfsteinpflaster zwischen den alten Häuschen zwar erst selten beschritten; dafür stellen die Nachbarstraßen mit ihrer Rosenpracht eine zu große Konkurrenz dar. Aber hineingeschaut habe ich schon öfters, im letzten Winter mit richtig viel Schnee zum Beispiel und vor meinem Umzug, als das nette Altstadtviertel direkt auf dem Weg zwischen meiner Wohnung und dem Hochschulsport lag und es mir ein Vergnügen war, durch die Straßen zu schlendern und einen Blick in die gemütlich beleuchteten Wohnzimmer zu werfen um für einen kurzen Moment Menschen beim Kochen, Essen und heimeligem Beisammensitzen zu beobachten.
Heute scheint die Sonne, es ist kurz nach acht, etwas diesig, die Luft ist frisch und klar – wettertechnisch gesehen dürfte der heutige Tag zu einem meiner Top 10 des Jahres werden. (Wenn eine imaginäre Liste dieser Art existieren würde.)
Doch Freizeit ist heute nicht angesagt.
Anfangs wurde mir im Notarzt-Wagen bei der Anfahrt oft schlecht – zu neu und aufregend war alles ohnehin und dann noch mit hoher Geschwindigkeit durch die Straßen; das war mir und meinem Magen etwas zu viel. Mittlerweile bin ich etwas routinierter und mein Herz schlägt nicht ganz so schnell; und fast schon genieße ich es, den Straßenverkehr – deutlich erhöht im Einsatzwagen thronend – gut überblicken zu können; und bin überrascht, wie schnell man mit Sonderrechten durch den Verkehr kommt. Zum Glück!
Meist dauert es keine zehn Minuten vom Notruf bis zu unserer Ankunft.
Das kleine Altstadthaus ist verwinkelt und beim Eintreten habe ich – wie jedes Mal, wenn ich in das Zuhause eines so gänzlich fremden Menschen eindringe – habe ich das Gefühl, in einer ganz anderen Welt zu sein; heute ist es nicht eine Reise in eine Gesellschaftsschicht, die ich bisher in erster Linie aus RTL II kannte, sondern irgendwie in die Vergangenheit. Im Haushalt unserer Patientin scheint entweder ein Kunsthandwerker im Ruhestand zu leben, der seinen Beruf so sehr mochte, dass er ihn nie wirklich aufgegeben hat, oder jemand mit einem ausgeprägtes Hobby für geschickte Holz- und Metallbearbeitung. In der Diele ist eine antiquierte Werkbank, an der vermutlich schon einige Generationen ihr Handwerk ausgeübt haben, die aber nach wie vor so anmutet, als wäre sie regelmäßig in Benutzung. Die enge Treppe hinauf in den ersten Stock erstreckt sich ein wunderschöner großer Raum, von beiden Seiten durch alte Holzfenster lichtdurchflutet und mit allerlei Möbeln, die aussehen, als könnten sie gut ein Stockwerk tiefer in sorgfältiger Handarbeit entstanden sein.
Doch nun zum eigentlichen Thema.
Frau P., unserer 86-jährigen Patientin geht es nicht gut. Ihr Mann berichtet, dass sie gestern schon etwas geschwächt gewesen sei, ein kleiner Spaziergang und das abendliche Klavierspiel sei aber noch gut möglich gewesen. Heute früh um sechs habe sie das erste Mal gesagt, dass etwas anders sei und nun gehe es ihr zunehmend schlechter, sie habe eben über Kopfschmerzen geklagt und sei nun kaum mehr ansprechbar. Die leichte Lähmung im Gesicht sei eine Folge des Schlaganfalls vom letzten Mai, aber irgendwie wirke die linke Seite heute insgesamt schlapper als gewohnt.
V.a. Schlaganfall, DD intrakranielle Blutung.
So sehr das kleine Haus es mir angetan hat: um eine kranke Patientin aus dem zweiten Stock nach unten zu befördern (selbst eine zarte alte Dame), sind die engen Holztreppen nicht geeignet. Doch wie vieles im Leben gelingt es uns mit vereinten Kräften. Im Rettungswagen dann eine weitere Zustandsverschlechterung der Patientin; Übelkeit, Erbrechen, schließlich der Entschluss des Notarztes, zu intubieren.
Ich gehe auf die Straße zum Ehemann von Frau P., der beunruhigt, aber gefasst ist. Ob ich ihm noch den Namen des Notarztes geben könnte, seine Tochter sei auch Notärztin, vielleicht kennen die beiden sich ja. Ich schaue ihn überrascht an, hier in der Stadt? Nein, etwa vier Autostunden von hier, aber könnte ja trotzdem sein. Studiert habe sie hier. Ich habe zwar meine Zweifel, schreibe ihm aber dennoch den Namen meines Notarztes auf und zusätzlich die Nummer der Uniklinik – in zwei Stunden kann er dort anrufen um zu erfahren, wie es seiner Frau geht.
Auf dem Rückweg ist die Stimmung etwas bedrückt.
Bei der schnellen Verschlechterung der Patientin, der man fast zusehen konnte, rechnet der erfahrene Notarzt eher mit einer intrakraniellen Blutung als einem Infarkt – und damit mit einer schlechten Prognose.
Der Schockraum ist angemeldet, eine Schichtbildaufnahme des Kopfes wird die Kollegen gleich aufklären und die weiteren Therapieschritte bestimmen. Wir übergeben das Protokoll, entsorgen unsere Handschuhe und gehen zurück auf die Wache.
Die Arbeit des Rettungsteams und des Notarztes ist hier vorerst getan. Der Notarzt holt sich einen Kaffee, setzt sich dann aber direkt an den Bildschirm, um die CT-Bilder aufzurufen: so groß ist die Routine selbst nach einigen Jahren Berufserfahrung dann doch nicht, dass ihn die Schicksale seiner Patienten, die sich nur so kurz in seiner Obhut befinden, kalt ließen.
Jeder Mensch mit seiner individuellen Krankheit ist ein Mysterium und unfassbar interessant!
Zum Thema Hirnblutung hatte ich diese Woche einen Mann um die 50: Vergangenes Wochenende Notarzteinsatz wegen Kopfschmerz und Hyperventilation, 2 Tage später in der Praxis bei mir als Hausarzt wegen Verspannung des Nackens – dabei kein Anhalt für einen gefährlichen Verlauf. Wieder 2 Tage später sitzt die Freundin in der Sprechstunde und berichtet weinend, er habe vergangene Nacht rasende Kopfschmerzen und Sprachstörungen entwickelt: Hirnblutung.
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