Alte Herren

‚Und Sie haben ja noch jemanden mitgebracht, Herr Doktor! Ist die junge Frau etwa für mich?‘ Ich lächele höflich, obwohl mich die Anspielung ziemlich nervt. Warum können sich so viele alte Männer derartige Kommentare nur nicht verkneifen.

Je oller desto doller!

Das hat meine Mutter immer gesagt. Im Krankenhaus habe ich schon öfter die Erfahrung gemacht, dass sie recht hat damit. Wobei ich noch Glück habe damit, nicht in der Pflege tätig zu sein und damit auch das Waschen oder Duschen einiger dieser Patienten übernehmen zu müssen…

Die Tage sind gezählt.

Unserem Patienten bleiben nicht mehr viele Monate. Heute ist Dr. S zwar da, um ihm zu sagen, dass er erst einmal nicht mehr kommen wird – denn für den Palliativdienst geht es Herrn M. mittlerweile wieder zu gut. Direkt nach dem letzten Krankenhausaufenthalt stand es sehr schlecht um ihn, da vermutete man schon das Schlimmste. Aber nun, da sich der Patient dank Medikation wieder etwas gefangen habe, sehe das anders aus. Bei jeglicher Verschlechterung seines Zustandes solle er aber nicht zögern, sich direkt wieder zu melden.
Herr M.s Ehefrau nickt und holt Zettel und Stift, um sich die Telefonnummer des Palliativdienstes zu notieren. Herr M. bietet uns derweil Osterkonfekt an. ,Das haben wir extra für Sie aufgehoben, Herr Doktor!‘ Im Vorbeigehen bewundert er meine hochgebundenen Haare und wagt es sogar, einmal kurz danach zu greifen. ‚Und so einen schönen Dutt hat sie auch noch!‘

War das jetzt richtig?

Auf der Rückfahrt schaut Dr. S. mich an. ‚War dir das gerade unangenehm?‘ Ich überlege einen Moment. Ja. Und gleichzeitig frage ich mich, inwiefern ich mich – als studentische Praktikantin, die heute dem Palliativmediziner über die Schulter kuckt, im recht fühle, einem sterbenden Herrn vom alten Schlag, aus einer anderen Generation, seine kleinen Späße zu verbieten, die wohl weder böse noch unbedingt frauenfeindlich gemeint sind, sondern von einer anderen Zeit, Erziehung, einem veralteten Rollenverständnis zeugen. ‚Naja, wenn ich den öfter sehen würde, dann würde ich da schon was gegen sagen. Und ich frage mich, ob die Patienten immer noch so weit gehen, wenn ich ihnen als Ärztin gegenüber sitze. Aber so…‘ Dr. S. nickt. Auch er hatte ja offensichtlich keine Lust zu intervenieren, obwohl die Sprüche des alten Herrn ihm ebenfalls aufgefallen sind.

Manchmal ist es gar nicht so einfach, die Gratwanderung zu finden. Und eine dicke Haut braucht man als Arzt ohnehin. Denn bei so vielen Menschen, auf die man trifft, hält immer mal wieder jemand eine Beleidigung oder einen dummen Spruch parat – und immer darauf einzugehen, das würde die Kräfte eines jeden Arztes wohl übersteigen. Und viel zu lange dauern.
Der Klügere gibt nach. (Aber immer der Klügere zu sein ist gar nicht so einfach…)

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Ein Gedanke zu „Alte Herren

  1. Auch der Patient muss gelegentlich​ auf seine Grenzen hingewiesen werden.
    Was den nahenden Tod angeht, so sprechen viele vom „Schlimmsten“, aber ist es das wirklich? Wenn es so wäre, befände sich der Arzt/die Ärztin mit vielen Sterbenden vor Augen in einer Lage, wie Blaise Pascal es in seinen „Pensees“ beschreibt:
    „Man stelle sich eine Anzahl Menschen vor, in Ketten geschlagen, die alle zum Tode verurteilt sind, von denen alle Tage einige vor den Augen der anderen erdrosselt werden: die übrigbleiben, erkennen ihre eigene Lage in der ihrer Schicksalsgenossen, sie betrachten einander mit Schmerz und ohne Hoffnung, wartend, bis die Reihe an ihnen ist. Das ist ein Gleichnis vom Zustand der Menschen.“
    Aber ist es wirklich so? Oder verschließen wir die Augen vor dieser Realität​?

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