Nachwuchsoptimierung

‚… Naja und dann habe ich gedacht, dass es Leo jetzt schon selbst beeinträchtigt. Ich sehe, dass er sich bemüht, aber so langsam merkt er, dass er nicht so schnell läuft wie die anderen, nicht so gut klettert. Manchmal gibt er sogar ganz auf. Und beim Handball wollen sie ihn aus der Mannschaft haben, weil er immer der schlechteste ist. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich ihn da als seine Mama unterstützen kann…‘

Dr. R. nickt. Ich bewundere die Aufmerksamkeit, die er jedem kleinen Patienten, jedem besorgten Elternpaar aufs Neue schenkt, auch nach dem x-ten Gespräch. Dabei geht es heute fast ausschließlich um Husten, Schnupfen, ein bisschen Fieber. Mir fallen auf Anhieb viele Kommilitonen ein, die genau aus diesem Grund sagen, dass sie kein Interesse daran hätten, als niedergelassener Kinderarzt zu arbeiten. ‚Da siehst du immer das gleiche, musst die Eltern betüddeln und die Kinder haben meist gar nichts.‘ Die Sicht vieler Medizinstudenten unterscheidet sich nämlich gewaltig von der vieler Eltern: was für die einen ein Grund für schlaflose, sorgenvolle Nächte ist, ist für die anderen nicht der Rede wert. Ein viraler Infekt, der mit Sicherheit nicht angenehm ist und die Temperatur durchaus auch mal in die Höhe treiben lässt? Medizinisch absolut unspannend oder zumindest kein ‚krasser Fall‘, für den junge Studierende sich begeistern könnten.

Wer so redet, hat nicht unbedingt unrecht. Aber ich habe das Gefühl, dass diese Perspektive einen wichtigen Teil der ärztlichen Aufgabe unbeachtet lässt.

Kommunikation ist das A und O

Heute muss Dr. R. erst einmal vermitteln und die ehrgeizige Mutter seines Patienten beruhigen. Denn ihr Sohn ist grobmotorisch wirklich kein großes Talent, wie sich in der Untersuchung zeigt. Ein echtes Problem, das aus medizinischer Sicht behandlungsbedürftig ist, hat er aber auch wieder nicht.

‚Wissen Sie, einige Kinder sind tolle Sportler, andere haben ein besonderes Talent zum Malen und Basteln. Es gibt kreative Geschichtenerzähler und großartige Lego-Architekten. Ihr Sohn ist ein toller Kerl! Nur allem Anschein nach nicht zum Handballstar geboren. Aber seien Sie beruhigt: Ich mache mir um ihn absolut keine Sorgen.‘

Leos Mutter nickt. Irgendwie weiß sie das alles schon. Dennoch ist sie mit dieser Antwort nicht zufrieden, sie möchte noch auf etwas anderes hinaus. Die Logopädie hat schon einige Fortschritte bewirkt, aber die lahmen Beine seien davon nicht besser geworden, obwohl der Osteopath sich das erhofft hatte. Müsse man das nicht noch mal abklären oder vielleicht auch noch an Ergotherapie denken? Bei Leos großer Schwester habe das ja doch noch einiges bewirken können…

Dr. R. zeigt sich kompromissbereit. Ja, da dieser Weg nun schon geebnet sei (schließlich sei Leo ja schon mal beim Osteopathen gewesen) könne man durchaus noch einmal dessen Einschätzung einholen. Und ja, wenn dieser die Chance sehen sollte, mit Ergotherapie noch eine weitere Verbesserung zu erzielen, unterstütze er das.

‚Manchmal behandeln wir eher Befindlichkeiten als Krankheiten.‘

Als die beiden den Untersuchungsraum verlassen, wendet sich Dr. R. mir zu. (Mir gegenüber ist er nämlich genauso zugewandt und rücksichtsvoll wie seinen Patienten und Angehörigen gegenüber.) Manchmal müsse er auch Medizin für Besserverdiener betreiben. Die gut vernetzt sind, sich im Internet über neueste Therapien informiert haben und versuchen, ihrem Kind das absolute Optimum an Förderung zu bieten. Medizinisch sinnvoll ist das nicht immer. Umgehen müsse man als Arzt damit aber. Und manchmal auch darauf eingehen.

Dass Klientel der Besserverdienenden haben längst auch die Krankenkassen für sich entdeckt und unterstützen die ‚Behandlung von Befindlichkeiten‘ sogar – denn finanziell lohnt es sich durchaus, denn selbst wenn Osteopathie erst einmal Kosten verursacht, handelt es sich bei dieser Gruppe doch um Menschen, die ansonsten gut auf sich selbst achten und einen Lebensstil führen, der sie weniger krank werden lässt.

Abwägen, taktieren, überzeugen, Verständnis zeigen, klare Grenzen setzten. All das spielt in der breiten Allgemeinmedizin eine Rolle. Und macht jeden Tag damit zu einer neuen interessanten Aufgabe. Auch wenn man nicht immer medizinische Seltenheiten zu sehen bekommt.

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