Manche Patienten kommen einfach so. Ich bin etwas überrascht, denn selbst bin ich noch nie auf die Idee gekommen, mir nach einem Umzug einen neuen Hausarzt zu suchen und mich gewissermaßen bei ihm vorzustellen. Eher habe ich – bei dem ersten hartnäckigen Infekt – nach der nächsten Praxis in der Nachbarschaft gegoogelt, um mir Medikamente oder manchmal auch eine Krankschreibung abzuholen. Natürlich habe ich auch schon Patienten diesen Schlags gesehen. Aber schon gestern stellte sich ein junger Mann in meinem Alter vor, der für seinen ersten Job neu in die Stadt gekommen war, und nun – quasi als Teil der Ankommenszeremonie mit Ummeldung des Wohnsitzes, Anmeldung des Strom und Vorstellung bei den Nachbarn – dabei war, den Punkt ‚Hausarzt beschaffen‘ auf seiner To-Do-Liste abzuhaken. In seinem Fall hatte ich im Laufe des Gesprächs aber verstanden, dass das Bedürfnis nach einem vertrauten Doktor dieses Patienten, das mir persönlich nicht bekannt ist, nicht etwa auf eine andere Erziehung zurückzuführen war, sondern dass der junge Mann Schicksals wegen eine engere Bindung zu Medizinern pflegt: Die Anamnese ergab, dass er durch eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung geplagt ist. Kurzum, ich hatte verstanden.
Der Patient, um den es eigentlich geht, ist noch gar nicht so richtig da
Heute dauert es etwas länger, bis ich die wahren Beweggründe des Patienten, sich beim Arzt vorzustellen, verstehe. So richtig neu ist er in der Stadt diesmal auch gar nicht, schon gut zwei Jahre lebt er hier. In seiner Vorgeschichte ist nichts zu finden; es ist keine Weltumrundung geplant, für die eine Reiseapotheke notwendig wäre; momentan erfreut er sich allgemein allerbester Gesundheit. Doch Doktor K. kommt bei der Sozialanamnese trotzdem auf die heiße Spur. ‚Verheiratet, Kinder?‘ ist er dabei, den Patienten etwas kennenzulernen und einzuschätzen. ‚Ja und noch nicht‘, der Patient rückt auf seinem Stuhl gerade, ‚aber bald ist es so weit‘, in seiner Stimme schwingt freudige Erwartung angesichts des anstehenden Kindersegens mit. ‚Schön!‘, der Arzt blickt auf und schaut seinen Patienten an, ‚Aus medizinischer Sicht bedeutet das aber natürlich auch, dass Sie schon recht bald in Kontakt mit Infekten aus dem Kindergarten kommen werden.‘
Und schon sind wir beim Thema und dem eigentlichen Grund für den heutigen Arztbesuch. Denn der Patient ist ein Impfkritiker, wenn nicht gar Impfgegner und möchte eine Meinung des Arztes und wenn möglich sogar einen Tipp für einen Kinderarzt, der ähnlich tickt. Vielleicht sogar jemanden, mit dem man schon vor der Geburt das Gespräch suchen könnte?
Doch Doktor K. schüttelt den Kopf. Er kenne nur Kinderärzte, die nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts beraten und arbeiten und auch persönlich würde er das empfehlen. Der Patient wendet ein: Weder er noch seine Frau seien in ihrer Kindheit in Gänze durchgeimpft worden, so einige Kinderkrankheiten hätten sie selbst mitgemacht, geschadet habe ihnen das doch offensichtlich auch nicht. Vielleicht doch sogar das Immunsystem gestärkt? Auf jeden Fall seien sie beide der Meinung, dass das für Kind doch auch ein guter Weg sei. Oder? Doktor K. klärt geduldig auf: Aufgrund der guten Impfquote seien in den letzten 40 bis 50 Jahren die Erinnerungen daran, was für einen schlimmen Verlauf Kinderkrankheiten nehmen könnten, verloren gegangen. Das Risiko einer Orchitis (Hodenentzündung) bei Mumps, die zur Unfruchtbarkeit führen kann, oder einer Enzephalitis (Entzündung des Gehirns) bei Masern mit potentiell bleibenden Schäden des zentralen Nervensystems oder gar einem tödlichen Verlauf bestehe nach wie vor. Und eine Masern-Epidemie habe es aufgrund vieler impfunwilliger Eltern erst vor kurzem in Berlin gegeben. Der Patient reagiert überrascht. Das war ihm nicht bewusst. Ausgestattet mit einem Faltblatt, dass über die vom Bundesinstituts für Infektionskrankheiten empfohlenen Impfungen aufklärt, verabschiedet er sich, ein klein wenig überzeugter davon, dass das mit dem Impfen vielleicht doch nicht ganz so falsch ist.
Zum persönlichen Risiko kommt das Risiko für andere
Aus dem Studium fällt mir dazu noch ein, dass die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts ja nicht in Stein gemeißelt sind, sondern – das Infektionsrisiko sorgfältig mit der Schwere der Impfreaktion abwägend – regelmäßig überprüft und ggf. angepasst werden. Zudem schützt die Impfung der gesamten Bevölkerung die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, die selbst noch nicht geschützt werden können: Neugeborene, Immunsupprimierte, Patienten unter Chemotherapie. Denn ein hoher Impfstatus der Bevölkerung sorgt dafür, dass Krankheiten gar nicht erst im Umlauf sind.
Ob der Patient von heute den Rat des Arztes annimmt und sein Kind impfen lässt – wer weiß. Ich habe allerdings den Eindruck, dass es Doktor K. gelungen ist, die Bedenken seines Patienten ernst zu nehmen, darauf einzugehen, und so Vertrauen aufzubauen. Wie viel an der Arbeit eines Arztes doch in die Schublade Kommunikation, Einfühlungsvermögen und Menschenkenntnis gehört!
Kommunikation ist extrem wichtig, den Patienten da abzuholen, wo er sich befindet, ebenfalls.
Übrigens empfiehlt das RKI auch was für werdende Väter: Die Keuchhusten-Auffrischimpfung (falls fällig).
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Wichtige Ergänzung! Der Ratschlag ist sogar gefallen, war mir beim Schreiben dann aber leider wieder entfallen 🙂
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Apropos Impfdiskussion:
Medizin ist doch manchmal zynisch – ich habe in meinem Leben bestimmt zwischen 5000 und 10000 Impfungen durchgeführt… und nur 1 relevante Impfkomplikation erlebt, diese jedoch ausgerechnet bei meiner eigenen Tochter: Sie bekam kurz nach einer FSME-Impfung ein Papillenödem und sah für 1/2 Tag Nichts, verbunden mit Kopfschmerzen und Erbrechen.
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