Der kleine Pausenraum ist hübsch hergerichtet. So hübsch es eben möglich ist in einem staatlichen französischen Krankenhaus. Die metallenen Klappstühle an der Wand sind fein säuberlich aufgereiht, Plastikbesteck und Pappteller stehen auf der Küchenzeile bereit, sogar eine Tischdecke hat jemand aufgetrieben. Das Buffet ist liebevoll angerichtet: Nudel- und Reissalat, Schoko- und Himbeer-Käse-Spekulatiustorte, mehrere Säfte. Nach drei Monaten in der Dermatologie haben meine fünf Kommilitonen heute ihren letzten Tag auf der Station und veranstalten einen kleinen Umtrunk, um sich bei den Ärzten zu bedanken und sich vom Team zu verabschieden. Für Thierry ist es sogar der letzte Tag als ‚Externe‘ (Student) im Krankenhaus. Im Juni schreibt er Examen, Anfang November beginnt seine Facharztausbildung. Wenn seine Abschlussnote es zulässt, wird Notarzt. Doch Thierry ist zuversichtlich. Im Probeexamen hat er gut abgeschnitten, insofern geht er einigermaßen entspannt in den Endspurt der Prüfungsvorbereitung.
Und was kommt danach?
Ich frage ihn nach seinen Sommerplänen. Und bin überrascht. Urlaub hat er noch nicht geplant, dafür stehen schon zwei Monate Dienst im Krankenhaus fest. ‚Weißt du, ich kann mir nicht vorstellen, vier Monate komplett raus zu sein. Dann weiß ich im November ja nichts mehr und da wird es ernst und ich trage Verantwortung. Nein, ich will mich lieber vorbereiten darauf…‘. Ich schlucke, wage aber nicht zu widersprechen. Ich habe neulich erzählt, dass in Deutschland die Facharztausbildungsplätze nicht nach einem zentralen Ranking vergeben werden und die Studenten haben dabei den Eindruck gewonnen, in Deutschland sei alles super einfach und wir würden nur auf der faulen Haut liegen. Da es ganz so ja nun auch wieder nicht ist und ich nicht möchte, dass sich dieses Bild noch weiter verfestigt, halte ich mich also diesmal mit meiner Meinung zurück. Zumal sein Engagement ja sehr lobenswert ist und sinnvoll hört sich das ganze auch an. Andererseits – das erste Mal seit sechs Jahren für längere Zeit frei sein und dann diese Freiheit nicht nutzen? Mir schießt das Bild des Zirkuselefanten in den Kopf, der als Baby an einen einfachen Pfahl angekettet war und nicht versteht, dass er mittlerweile stark genug wäre, sich loszureißen, sondern brav auf der Stelle stehen bleibt. Oder der Panther im Zoo, der sich so daran gewöhnt hat, vor den Gitterstäben unruhig auf und ab zu tigern, dass er gar nicht gemerkt hat, dass inzwischen das Gatter offen steht.
Die Assistenzärzte trudeln ein, die Oberärzte lassen noch etwas auf sich warten. Das Buffet wird eröffnet, nach einem langen Vormittag fallen alle hungrig darüber her, gleichzeitig sehr darauf bedacht, alle anderen mit Teller und Nahrung zu versorgen, bloß nicht gierig und unbeherrscht erscheinen. Man bedient sich, genießt, lobt die studentische Küchenkunst, fragt nach Karrierevorstellungen, dem nächsten Praktikum. Small-Talk unter Medizinern. Noch einmal kommen wir auf Thierrys Sommer zu sprechen. Eine Assistenzärztin im dritten Semester ist ungläubig, als sie hört, dass einige der Studenten vorhaben, zu reisen und nicht im Krankenhaus zu bleiben. Sie teilt Thierrys Einstellung: ‚Aber die letzte Station ist doch die wichtigste! Da weiß man, dass man kurz davor steht, Verantwortung zu übernehmen! Davon muss man doch profitieren!‘ Eine Kollegin nickt, gleichzeitig breitet sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus, das immer breiter wird. ‚Ja, das stimmt schon alles. Super, sich so vorzubereiten… Ich hab das damals nicht gemacht und dadurch waren die ersten zwei Monate als Assistenzärztin besonders hart…. Aber andererseits – die fünf Monate, die ich reisen war, waren die besten meines Lebens!‘
Die Balance finden
Da spricht mir jemand aus der Seele. Gleichgewicht ist wohl das Stichwort – sich seiner Verantwortung bewusst sein, entsprechend Zeit und Arbeit investieren, sich an den Schreibtisch setzen, Praxiserfahrung sammeln, auf Freizeit verzichten. Aber zwischendurch auch mal einen Schritt zurücktreten (oder auch zwei), durchatmen, sich mit anderen Dingen beschäftigen, sehen, was das Leben sonst noch so zu bieten hat. Bin ich jetzt ein typisches Beispiel der Generation Y, dass ich so denke, Stichwort Work-Life-Balance? Oder zu wenig karriereambitioniert? Würde ich eigentlich nicht sagen. Wie dem auch sei: Liebe Mediziner, bitte vergesst euch selbst nicht neben eurem Studium und Beruf. Schade wär’s!
Interessanter Artikel, schaue hier jetzt wohl mal öfter vorbei! Danke!
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Wie wahr! Oft habe ich auch das Gefühl, dass ältere Mediziner den jüngeren Kollegen die Pausen nicht so gönnen, weil sie selbst darauf verzichtet haben (verzichten mussten?).
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Ja, genau das hab ich auch schon erlebt und gelesen, dass es ein typisches Generationenproblem ist…
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