Seit knapp einer Woche schaue ich Frau Doktor P., einer niedergelassenen Allgemeinmedizinerin, über die Schultern. Jetzt ist Frau M. ist an der Reihe. 88 Jahre alt, sehr gepflegt, geistig fit und in einem guten altersgemäßen Allgemeinzustand. Die siebte Patientin heute früh. Die Praxis hat um 8.00h ihre Türen aufgemacht. Mittlerweile ist es fast neun Uhr.
‚Also, ich brauche neue Rezepte für meinen Mann. Und ansonsten geht es mir eigentlich gut. Ein bisschen hab ich’s im Kreuz, aber das ist wohl normal im Alter… Und ein paar Mal Krankengymnastik habe ich ja noch, vielleicht wird das dann endlich besser.
Und Frau Doktor, die Thrombose war natürlich ein Schock, der Arzt in der Notaufnahme hat gesagt, dass ich mich auf das Schlimmste gefasst machen solle. Bei mir waren ja beide Lungen dicht! Beide Lungen, ganz schlimm war das! Und ich hatte solche Angst, mir in der Klinik noch zusätzlich was einzufangen!
Aber Frau Doktor, das ist ja zum Glück noch mal gut gegangen. Nur mein Sohn war sehr verärgert darüber, dass Sie mich nicht direkt in die Klinik geschickt haben, als ich bei Ihnen war… hätte man das nicht kommen sehen können? Dass mein Mann dann zwei Tage später den Rettungswagen holen musste… Gut, dass er mich dazu überredet hat! Aber mein Sohn, der war sehr erbost.‘
Ich schaue in den Entlassbrief von vor einer Woche und meine Vermutung bestätigt sich. Tiefe Beinvenenthrombose, Lungenembolie.
‚Aber ich will Ihnen da ja gar keinen Vorwurf machen. Nur mein Sohn… Ich hätte ja tot sein können! Da verstehe ich seinen Ärger natürlich auch!
Aber Schwamm drüber – wichtig ist, dass ich jetzt wieder hier sitze und mich gut erholt habe. Denn bis auf die Rückenschmerzen geht es wieder.
Aber Frau Doktor, eine andere Sache habe ich noch. Schauen Sie sich das an.‘
Sie zieht einen Brief aus ihrer Handtasche.
‚Ich brauche nämlich ein Schreiben von Ihnen. Ein Schreiben, in dem Sie bestätigen, dass Frau M. gegenwärtig gesundheitlich nicht in der Lage ist, ein ganzes Haus leer zu räumen. Denn wir haben die Kündigung erhalten, schauen Sie! Die schmeißen uns aus unserem eigenen Haus raus!! Dabei waren wir noch mal 50.000 im Preis runtergegangen unter der Bedingung, dass wir dort wohnen bleiben dürfen. Die Maklerin ist Zeugin! 500.000 stand in der Anzeige. Ich habe zu der Dame bei der Besichtigung gesagt, wenn wir dort wohnen bleiben dürfen, gehen wir auf 450.000 runter. Und jetzt das… Dabei haben wir dort 30 Jahre gewohnt!‘
Frau M. schluchzt, in ihren Augen steigen Tränen auf. Der Brief trägt die Adresse einer Anwaltskanzlei. Zugestellt wurde er per Boten. Ich verstehe aus dem Gespräch: In dem Haus befinden sich zwei voneinander getrennte Wohneinheiten. Bis vor einem Jahr gehörte es Frau M. und ihrem Mann. Die jetzigen Besitzer haben nun Eigenbedarf für Angehörige angemeldet…
‚Wir wollen mit denen ja sowieso nicht mehr unter einem Dach wohnen. Von Anfang an war das kein gutes Verhältnis zwischen uns. Und jetzt schon gar nicht. Mit meinem Mann wird es sowieso auch immer beschwerlicher. Und mit solchen Leuten wollen wir uns gar nicht abgeben. Mein Mann sagt das auch. Unseren schönen Garten haben sie schon total verkommen lassen. Seit einem Jahr wohnen sie da und nicht ein Mal haben sie da wirklich was dran gemacht! So schade ist es darum!
Aber ich weiß ja nicht, ob wir im St. Marien rechtzeitig einen Platz bekommen. Angemeldet haben wir uns da schon. Da ist dann auch immer jemand da, falls mein Mann Unterstützung braucht. Aber davor noch eine andere Wohnung suchen – nein, das geht einfach nicht!‘
Doktor P. nimmt auf, zeigt Verständnis, schüttelt zwischendurch fassungslos den Kopf und empört sich gemeinsam mit Frau M. Redet ihr zu, begrüßt die Idee, in ein Pflegeheim zu ziehen. Formuliert parallel schon mal das Attest vor, das sie Frau M. ausstellen wird. Versichert sich, dass das Ehepaar M. einen Anwalt an der Seite hat.
Frau M. beruhigt sich allmählich wieder.
‚Ich danke Ihnen, Frau Doktor. Es tut mir ja Leid, dass ich Sie damit belästige. Ich sehe ja, wie voll ihr Wartezimmer schon wieder ist… Aber das musste dann doch von der Seele. Und Ihr Schreiben, das brauche ich auch. Denn ich kann jetzt wirklich nicht das ganze Haus räumen, so plötzlich. Der Arzt im Krankenhaus hat auch gesagt, ich solle mich schonen. Und das mache ich auch, ich lege mich jeden Tag nachmittags mindestens noch mal für drei Stunden hin. Die Beine hoch! Jetzt das Haus zu räumen und den ganzen Dachboden – das geht einfach nicht.‘
Frau Doktor stimmt ihrer Patientin zu. Das Attest könne sie sich gleich am Tresen abholen. Aber das St. Marien sei eine wirklich gute Idee – hoffentlich werde dort bald ein Platz frei für Frau M. und ihren Mann.
Die Schicksalsschläge, die man als Arzt tagtäglich mitbekommt, sind nicht immer nur medizinisch. Oft stecken hinter körperlichen Beschwerden seelische Belastungen. Das A und O: ein vertrauensvolles Verhältnis – und Zuhören.
Sehr zutreffende Schilderung!
Besser noch als „Das A und O: ein vertrauensvolles Verhältnis – und Zuhören. “ fände ich „… achtsames Zuhören.“
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Der Arztberuf ist nun mal mehr als nur ein Handwerk. Das Zwischenmenschliche ist so wichtig, und gehört einfach dazu, und mach diesen Beruf so einzigartig.
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