Theorie und Praxis

Vielleicht ist es ein Generationenunterschied – der junge Assistenzarzt ist zwar erst seit drei Jahren approbiert, aber wer weiß, vielleicht hat sich in dieser Zeit viel getan. Oder aber meine Uni legt einfach mehr Wert auf Kommunikation als die, an der er studiert hat. Oder aber es ist ganz einfach der Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

Anders kann ich mir nicht erklären, warum T. heute erst einmal alles genau nicht so macht, wie man es machen sollte. Kein Blickkontakt zu Eltern oder Kind beim Betreten des Untersuchungszimmers in der Notaufnahme. Wortlos setzt er sich an den Rechner, der unglücklicherweise auch noch so in der Ecke steht, dass Dr. T. seiner kleinen Patientin und ihren Angehörigen den Rücken zugewendet hat. Tippert auf der Tastatur herum. (Bereitet alles vor, um Anamnese und Untersuchung zu erfassen und den Arztbrief zu schreiben – aber was weiß schon seine Patientin davon?) Ziemlich peinlich berührt stehe ich neben den Eltern und zucke etwas hilflos – und ich hoffe es kommt gleichzeitig verständnisvoll rüber – die Schultern hoch. Die Mutter nickt. Sie ist froh, dass ihre Tochter nun von einem Arzt gesehen wird; die beiden haben schon einige Zeit im Warteraum verbracht.

Einige weitere Minuten verstreichen.

Dann ist T. so weit. Er wendet sich direkt seiner Patientin zu und würdigt ihre Eltern vorerst keines Blickes. Lässt sich von der Neunjährigen geduldig berichten, was Sache ist – und bezieht schließlich auch ihre Eltern mit ein, die ergänzen. Untersucht das Kind. Erklärt seinen Befund. Ist wie man es nimmt aufgetaut oder runtergekühlt und tritt so auf, wie es ein Arzt tun sollte; zumindest meinem Verständnis nach.

Als wir allein im Raum sind, dreht sich T. zu mir. Auch aus seiner Sicht steht eine Erklärung aus. ‚Ich war echt genervt, dass ich in die Notaufnahme runtergeschickt wurde. Heute ist eigentlich Kollege C. dran hier unten. Und jetzt ist er aber scheinbar im Labor für seine Forschung und daher hat Oberarzt A. mich nach unten beordert. Oben bleibt die Arbeit jetzt liegen – und dreimal kannst du raten, wer hier wieder Überstunden schiebt später.‘

Ich verstehe.

Das sind ungünstige Rahmenbedingungen, um es freundlich zu sagen. Aber wäre es dennoch nicht besser, das Gespräch mit Kollegen und Chefs zu suchen – und sich für eine bessere Planung einzusetzen? Oder sind die Verhältnisse derart eng und der Kostendruck so hoch, dass das wirklich aussichtslos ist?

Theorie und Praxis. Ich bin gespannt, inwiefern ich im Krankenhausalltag meinen Idealen treu bleiben kann. Nehme mir aber vor, regelmäßig abzugleichen, ob ich mich noch auf dem richtigen Weg fühle…

Was meint ihr dazu?

2 Gedanken zu „Theorie und Praxis

  1. Die Rahmenbedingungen im KH sind m.E. schon deutlich besser als noch in den 90er Jahren: Damals wurde erwartet, dass wir Assistenzärzte von 7 bis 20 Uhr da sind plus 1-2 Nachtdienste, nach denen man trotzdem wieder bis 20 Uhr blieb. So kamen manchmal einschließlich 24h-Dienst am Wochenende über 100 Wochenstunden zusammen.

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    1. Das möchte ich gerne glauben. Aber ist besser als früher schon gut genug? Das wage ich zu bezweifeln, auch wenn es hier und da schon tolle Beispiele geben mag in Bezug auf Arbeitsbedingungen, die ein Privat- und Familienleben entspannt zulassen.

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