Von Schamgefühl und Aufmerksamkeit

Die 17-Jährige versucht verschämt ihren Slip zurechtzuziehen. Die Rettungsassistenten haben sie zwar eben vorgewarnt, dass sie ihr die schwarze adidas-Hose aufschneiden würden („Aber die habe ich gestern erst gekauft!“); weniger unangenehm ist es ihr darum aber nicht, dass sie nun – zwar im Rettungswagen, geschützt vor fremden voyeuristischen Blicken – aber dennoch umringt von Fremden (Notarzt, Rettungsassistenten und Praktikantin, ergo mir) entblößt wird.

Ich fühle mit ihr.

Auch, wenn Schamgefühl und Privatsphäre aus medizinischer Sicht irgendwie gerade eher geringe Probleme sind. Immerhin hat das Mädchen gerade einen Motorradunfall hinter sich – als Beifahrerin wurde sie gemeinsam mit ihrem Freund bei 50km/h von einem Abbiegenden übersehen und ist einmal über die Motorhaube gerollt. Den Helm hat sie sich danach schon selbst abgenommen und ist mit Hilfe von Passanten an den Straßenrand gegangen. Ihr geht es aber soweit gut. Eine Schürfwunde an der Schulter, leichte Schmerzen im unteren Rücken; hoffentlich hat sie wirklich nur so leichte Verletzungen erlitten, nach denen es auf den ersten Blick aussieht. Die weitere Abklärung wird gleich in der Klinik geschehen: Bauch-Ultraschall, um nach inneren Verletzungen und Blutungen zu schauen, Ganzkörper-CT für knöchernen Verletzungen. Weiterhin die Überwachung der Vitalparameter. Der Schockraum ist angemeldet.

Unter Adrenalin ruhig und besonnen bleiben.

Mein Puls geht nach wie vor bei jeder Fahrt mit dem Notarzt ordentlich in die Höhe; gleichzeitig bin ich beruhigt, dass es mir doch jedes Mal ein kleines bisschen besser gelingt, konzentriert zu bleiben, die Situation zu erfassen, das Protokoll vorzubereiten und mit anzupacken. Genau deshalb bin ich froh darüber, die Möglichkeit zu haben, bei einigen Notarzteinsätzen dabei zu sein: Wie geht man vor in so einer Situation? Wie schafft es der Notarzt, ruhig zu bleiben, wie redet er mit den Patienten und Angehörigen, worauf kommt es an, wenn alles schnell und gleichzeitig trotzdem sorgfältig und bedacht passieren muss?

Wenn wir Patienten auf der Straße oder bei sich zu Hause auffinden, sehen wir mehr von ihrer Persönlichkeit als im Krankenhaus. Ihre Wohnverhältnisse, ihren Kleidungsstil, die Handtasche oder den Rucksack, in denen ich teilweise nach der Versichertenkarte suche. (In Rücksprache mit dem Patienten, wenn möglich.) Erst in der Klinik werden die Verletzten oder Erkrankten in gewisser Weise entpersonalisiert: in das karierte Einheitsnachthemd und ins Bett gesteckt. Obwohl sich die Schwestern und Ärzte Mühe geben, den Patienten mit einzubeziehen und ihm zu erklären, was vor sich geht – natürlich kommunizieren sie nicht nur mit ihm, sondern auch mit Kollegen viel über ihn. So seltsam es vielleicht klingen mag – diese persönliche Note eines Einsatzes und der Blick auf den Patienten als Privatperson gefällt mir.

Nun bin ich erleichtert, dass die Rettungsassistentin unserer Patientin ein Tuch gibt, das sie sich über ihr Höschen legen kann, um sich weniger entblößt zu fühlen. Denn neben der professionellen Versorgung sind es doch diese menschlichen Zuwendungen, die – auch in Notsituationen, sofern nicht akute Lebensgefahr besteht – möglichst nie außer Acht gelassen werden dürfen. Oder? Oder wie ein Prof von mir immer gerne sagt: wir behandeln Menschen und keine Krankheiten.

7 Gedanken zu „Von Schamgefühl und Aufmerksamkeit

  1. Hallo!
    Ich lese deinen Blog sehr gerne und finde es spannend, wie du die Notfallmedizin empfindest. Ein Feld dass mir als Rettungsassistentin auch sehr am Herzen liegt. Keine Sorge, das Adrenalin lässt nach. 😉 Da wahrscheinlich auch viele interessierte Laien deinen Blog lesen, muss ich doch mal etwas ausführlicher antworten.
    In einer Sache muss ich dir vehement widersprechen, was die Helmabnahme angeht, insbesondere deine Empfehlung den Helm draufzulassen. Das ist falsch. Der Helm muss runter! Auch wenn wir dies in verschiedensten Erste-Hilfe-Kursen predigen, scheuen viele Ersthelfer dies wie der Teufel das Weihwasser. Aus eigener Erfahrung kann ich von mehreren Fällen berichten, bei denen Verunfallte dies mit dem Leben bezahlt haben.
    Ein Patient der wach ist hat auch bei frakturiertem Halswirbel durchaus einen adäquaten Muskeltonus, der eher zur Stabilität beiträgt. Der Patient ist auch derjenige, der ein Helm am besten abnehmen kann, ggf mit Unterstützung durch andere. Aber das kann er dann ja sagen. Und ein Helm wiegt auch etwas, das heißt die Hebelwirkung auf den Halswirbel wird noch verstärkt.
    Für alle anderen gilt: Der Helm muss runter!
    Mit Helm kann ich keinen Atemweg freimachen und sichern, kann ich keine CPR durchführen. Ein Ersthelfer kann in Neutralstellung den Atemweg nicht freihalten, dazu braucht er die stabile Seitenlage. Selbst wenn er diese anwendet verhindert der Helm eine korrekte Lage. Das erhöhte Risiko der der Regurgitation und Aspiration eines Bewusstlosen (Kotzen und dran ersticken) ist hoffentlich mittlerweile allseits bekannt und wird durch einen Helm noch verstärkt. Dies führt dazu, dass Menschen aus Sorge um die Wirbelsäule ersticken.
    Und man muss da auch ganz klar sagen: Wenn der Halswirbel schon gebrochen ist, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Eine Querschnittslähmung durch Helmabnahme ist selten, ein Tod durch Ersticken im Helm dagegen häufig.
    Und was nutzt eine schöne Wirbelsäule, wenn man tot ist? Nichts!
    Insofern: Life bevor limb, treat first what kills first, der Helm muss runter!

    Viel Spaß noch auf dem NEF, wir sehen uns auf der Strasse! 😉

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    1. Vielen Dank für diesen wichtigen Hinweis! Du hast recht, da habe ich mich in dem Informations-Dschungel, den wir behalten müssen, wohl etwas verlaufen :S Ich hatte irgendwie abgespeichert, dass Ersthelfer von dem Helm lieber die Finger von lassen sollten. Und um so einen Unsinn nicht weiterhin in die Welt zu setzen meinen falschen Hinweis lieber gleich rausgenommen… (Wer es noch genauer wissen will, zum Beispiel auf der Seite des DRK – bei Google über „Helm abnehmen erste Hilfe“)

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      1. Ja, der Dschungel ist oft unübersehbar, ich kenne das ja auch.
        Die Empfehlung ist tatsächlich andersrum. Etwas, dass mich immer massiv gestört hat bei jungen Ärzten: Das Problem Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu treffen. Seitdem ich studiere weiß ich etwas besser woher das kommt. 😉

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      2. … weil man im Studium den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht? Riesiges Problem! Ich habe nach wie vor oft das Gefühl, dass ich mich im Detailwissen verrenne und dann aber die großen wichtigen Dinge nicht weiß! P.S.: Studierst du auch Medizin?

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    1. Aber klar! Nun ja, bis das CT das Gegenteil bewiesen hat, ist weiterhin Vorsicht geboten – denn es hätte ja zum Beispiel sein können, dass sich hinter den lumbalen Rückenschmerzen eine stabile Fraktur verbirgt. Daher wird in so einem Fall jede Mobilisation (die ja auch für das Ausziehen der Hose erforderlich wäre) vermieden.
      Und bei der gesamten körperlichen Untersuchung schaut man sich ja den Körper entkleidet an. Nur so kann man wirklich beurteilen, ob Hautverletzungen oder auch Prellmarken vorliegen, die beispielsweise auch auf innere Verletzungen hindeuten könnten.
      Und im Übrigen: der entstandene Sachschaden – sprich eine kaputte Hose – wird von den Krankenkassen erstattet!

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