Herzschmerz

‚Und was sind nun die nächsten Schritte nach deiner Entlassung?‘ Die Worte, die jetzt kommen, werden mir noch lange im Gedächtnis bleiben. ‚Ich will mein Leben in den Griff bekommen.‘ Christian schaut offen in die Runde, das dunkle Haar kurz, Kaputzenjacke und Jogginghose einer bekannten Sportmarke in grau-schwarz, die Stimme recht monoton, der Blick etwas kühl. Gebannt hören wir ihm zu, denn was er berichtet und wie er es erzählt – es ist zu spüren, wie wichtig das alles für ihn ist. Besonders ruhig und erwachsen will er wohl klingen vor den fünf Studenten, deren Fragen Christian sich heute stellt.

17 Jahre ist er alt. Ich hätte ihn auf älter geschätzt, Anfang 20 mindestens. Während andere Jugendliche in unserem Land in seinem Alter das Gefühl haben, die Welt liege ihnen zu Füßen und gar nicht so recht wissen, wohin mit ihrer Lebenslust und Energie – direkt studieren, wenn ja, dann wo, oder doch lieber erst ein FSJ oder ein Jahr reisen oder gar erstmal ein bisschen gammeln und vom Abi erholen – sind seine bescheidenen Zukunftspläne traurigerweise realistisch. Denn Christian weiß trotz seiner jungen Jahre schon, dass es auch ganz anders geht. Vielleicht wirkt er deshalb älter.

Ein guter Mensch sein

Doch er hat sich gefangen. Und sich vorgenommen, vieles zu ändern in seinem Leben; die letzten Wochen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben ihn verändert, irgendwie nehmen wir ihm das alle ab. Sehr glaubhaft tritt er auf, durchdacht sind seine Pläne. Er weiß, dass er nicht wieder der Mensch sein möchte, der er war; dass er so, wie er war, im Inneren eigentlich nie sein wollte. Sondern irgendwie da reingeraten ist. Sein Vater ist Alkoholiker – ich kann nur mutmaßen, wie seine Kindheit- und Jugend gewesen sein muss und mir vorstellen, dass die Verhältnisse nicht optimal waren, um ihn zu einem sorglosen, verantwortungsbewussten und selbstständigen Erwachsenen werden zu lassen. Stattdessen blickt er nun auf ein Jahr zurück, das den bisherigen Tiefpunkt in seinem Leben darstellt, in dem er ‚bis auf Spritzen eigentlich alles an Drogen‘ ausprobiert hat. Und unter Drogeneinfluss ‚Sachen gemacht hat, die ich eigentlich gar nicht will‘. Dass es sich dabei um echte Straftaten handelt – andere abziehen, gefährliche Körperverletzung – erfahren wir erst nach dem Gespräch vom Psychiater; und sind ungläubig, denn das passt so gar nicht zu dem Christian, den wir gerade kennengelernt haben. Der Arzt ist der Meinung, wir seien etwas zu naiv; ich frage mich, ob Christian sich nicht wirklich einfach schon sehr verändert hat seit diesen Taten.

Körper und Geist

Christian ist in Behandlung, weil er an einer somatoformen autonomen Funktionsstörung leidet. Er hat Schmerzen, ohne dass dafür ein somatisches Korrelat gefunden wird. Nach gründlichsten Untersuchungen sind die Ärzte der Meinung, ihr Patient sei körperlich kerngesund. Ihre Diagnose: Christinas Herzschmerzen entstehen psychosomatisch – durch seelische Vorgänge. Was als Sorge um seine Gesundheit begann, als Christian sich darüber bewusst wurde, was Drogen mit seinem Körper anrichten können, entwickelte sich mit der Zeit zu einer anhaltenden Schmerzsymptomatik. Er hatte das Gefühl, bei Bewegung tot umfallen zu können – selbstverschuldet, weil er seinem Herzen schon zu viel toxische Substanzen zugemutet hätte. Diese Angst ließ ihn jeglichen Drogenkonsum mit einem Schlag beenden, trieb ihn von Arzt zu Arzt – und brachte ihn schließlich in die Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Christians Geschichte berührt mich zutiefst. An leichten Herzschmerzen leidet er immer noch hin und wieder. Aber er hat seine Diagnose angenommen, ist bereit, sein Leben in den Griff zu nehmen und seine Zukunft nach eigenen Vorstellungen zu gestalten; die Schule beenden, eine Lehre beginnen, selbstständig werden, ein Mensch, den andere schätzen und nicht einer, vor dem andere Angst haben. Mit Drogen will er nichts mehr zu tun haben. Wenn man es so sieht, hat seine Krankheit ihn irgendwie gerettet. Christian nickt, als der Arzt ihn darauf anspricht; irgendwie stimmt es schon.

Zum Abschied wünschen wir ihm alles Gute; und sind heute besonders bewegt, berührt, beeindruckt.

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