‚Und noch etwas, Frau Doktor: …‘

‚Ach Frau Doktor, und dann wollte ich noch fragen, ob Sie mir nicht Massage verschreiben könnten. Ich habe es doch auch im Rücken.‘ Frau P., eine zierliche Dame Mitte 70, hat akut eigentlich keine Beschwerden. Heute hat sie ihre Hausärztin aufgesucht, um sich durchchecken lassen. Die Blutwerte waren in Ordnung, keine Medikamentenanpassung notwendig. Gepflegt ist sie, wie viele ihrer Generation in Bluse, beigefarbener Stoffhose und orthopädischen Schuhen gekleidet. Die Finger sind durch mehrere schwere Goldringe geschmückt. Sie schaut die Ärztin, die zwar selbst klein ist, aber der zarten kleinen Dame gegenüber dann doch irgendwie groß erscheint, von unten hoch schräg an. Diese schüttelt bedauernd den Kopf. ‚Nein, das geht leider nicht. Das Budget ist in diesem Quartal fast aufgebraucht, und Sie bekommen ja bereits Krankengymnastik. Massage auch noch, das können wir uns nicht leisten… Auch wenn ich verstehen kann, dass Ihnen das bestimmt gut tun würde.‘

So schnell gibt Frau P. jedoch nicht auf.

Sie hat sich ihre Worte zurechtgelegt. ‚Ich hatte ja nur gehofft, vielleicht nur für sechs Mal, so eine Massage…‘. Doch Frau Doktor bleibt hart. Muss hart bleiben. ‚Es tut mir wirklich leid. Aber eine Massage gehört ja schon fast mehr in den Wellness-Bereich, als in die Krankenversorgung. Ich habe das heute schon zwei anderen Patienten aufgeschrieben, bei denen es eindeutig indiziert war. Das geht diesmal leider wirklich nicht.‘ Die Patientin nickt, sie versteht, dass sie heute kein Glück haben wird.

Ihre Ärztin gibt ihr zum Abschied die Hand und dreht sie sanft um in Richtung Tür. ‚Aber Frau Doktor, eine Frage hatte ich noch!‘, fällt ihr ein. ‚Ja bitte, Frau  P.?‘ ‚Was genau ist die Korsakoff’sche Krankheit? Das hat der Neurologe meines Sohnes mir aufgeschrieben, aber ich kenne das gar nicht…‘ Die Ärztin schließt die Tür des Sprechzimmers wieder, die sie bereits im Begriff zu öffnen war. Sie wendet sich der Patientin zu und schaut ihr direkt und offen in die Augen. ‚Ja, Frau P., das ist die Krankheit, die bei Ihrem Sohn durch den Alkohol aufgetreten ist und die sein Verhalten Ihnen gegenüber erklärt. Sie bedeutet, dass sein Gehirn Schaden genommen hat und er jetzt Dinge sagt und tut oder auch aggressiv ist, etwas, das Sie von ihm eigentlich nicht kennen. Das alles gehört zu dieser Krankheit. Und das wird sich leider auch nicht bessern.‘ Frau P. nickt, etwas verstört und gleichzeitig aber nicht überrascht kommt sie mir vor, ‚Ja, der ruft mich manchmal morgens an und schimpft und meckert und dann sage ich „Thomas, du hast doch was getrunken“ und lege auf. Gehört sowas auch dazu?‘ Ihre Ärztin hält ihre Hand und nickt. ‚Ja, auch das gehört dazu. Leider. Frau P., Sie haben alles getan für Ihren Sohn, was Sie konnten, jetzt passen Sie auf sich selbst auf und lassen es sich gut gehen, in Ordnung? So gut das möglich ist.‘

Frau P. spürt, dass sie nun langsam wirklich gehen muss, obwohl ihr Mitteilungsbedürfnis noch förmlich in der Luft hängt. ‚Ja, ist gut Frau Doktor. Dankeschön! Das werde ich…‘, sie drückt der Ärztin noch einmal die Hand und verlässt in vorsichtigen kleinen Schritten den Raum. Die Ärztin schließt die Tür und schaut mich an, ihre Hand liegt noch auf der Türklinke. ‚Da teilt ein Kollege einer alten Dame diese Diagnose mit und anstatt ihr zu erklären, was das bedeutet, schreibt er ihr den Namen auf. Damit sie es googlet oder was? Ohne Worte, oder? Die Massage hätte ich ihr ja gegönnt, aber das geht leider wirklich nicht…‘. Ich nicke. Und muss schlucken. Wo ist die Grenze zwischen dem, was ärztliche Aufgabe ist und dem, was der Patient darüber hinaus benötigt, damit es ihm wirklich gut geht?

2 Gedanken zu „‚Und noch etwas, Frau Doktor: …‘

  1. Meine Ansicht dazu ist, dass es die Ärztin sehr gut gemacht hat: Dem Patienten nahe sein, ihm zuhören, auf ihn eingehen, aber auch Grenzen setzen (wobei das Budget doch eher als Ausrede fungiert. Zumindest in Deutschland gibt es kein Heilmittelbudget).
    Von dieser vorbildlichen ärztlichen Haltung spricht auch Prof. Lauter mit einem Vergleich zu Endes „Momo“ hier (S.23):

    Klicke, um auf Vortrag%20Prof.%20Lauter%20Muenchen%20Tagklinik%20131112.pdf zuzugreifen

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  2. Vielen Dank für diesen interessanten Text, lieber Leser! Nicht nur ein gut lesbarer Überblick über die Geschichte und gegenwärtige Entwicklungen der Psychiatrie, sondern auch wahre Worte, die man jungen Medizinern wohl kaum zu oft ans Herz legen kann. (Und dass in so manchen Kinderbüchern sehr viel Weisheit steckt, begeistert mich ohnehin immer wieder…)

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