Nadel, Faden, Knoten

‚Lass mich heute die Unterhaut machen, die inversen Knoten muss ich noch üben. Du kannst dafür die letzte Naht machen, du hast ja gesehen, wie ich das gemacht habe.‘ Ich war bereits gestern freudig überrascht, als Julien mir Nadel, Faden, Nadelhalter und Pinzette ohne Vorwarnung in die Hand drückte. Jetzt freue ich mich ungemein, dass Clémence, seine Assistenzärztin, so bereitwillig ihre Aufgaben mit mir teilt. Sie ist gerade erst mit dem Studium fertig geworden und insofern ist es auch für sie noch etwas besonderes, im OP zu stehen, und sie freut sich über jede Geste, die sie ausführen darf. Doch die zierliche junge Frau mit entzückender Stimme und herzlichem Lachen ist mir gegenüber ebenso aufmerksam wie ihr Oberarzt Julien; keine Spur von Stutenbissigkeit oder Konkurrenz um Aufgaben. Was für eine tolle Zusammenarbeit!

Darüber, dass nach der Schilddrüsen-OP die zu verschließende Wunde an einer recht prominenten Stelle am Hals ist, denke ich im ersten Moment zum Glück nicht groß nach. Stattdessen gehe ich direkt und konzentriert an die Arbeit. Clémence schaut mir dabei sorgfältig auf die Finger. Nähen lernt man im OP. Einen dreistündigen Nahtkurs habe ich vor eineinhalb Jahren mal gemacht, mehr aber auch nicht. Für die Patienten mag das überraschend sein, aber die Mediziner unter euch werden wissen, dass die Naht zwar wie eine Visitenkarte ist, da Patienten die Fähigkeiten eines Chirurgen mangels anderer Urteilsmöglichkeiten oft anhand der entstehenden Narbe beurteilen. Das Nähen ist aber in einer OP dennoch eine der ersten Aufgaben, die an Nachwuchsmediziner vergeben wird, denn kritische Fehler können dabei kaum noch unterlaufen; der Eingriff selbst ist ja quasi abgeschlossen. Im schlimmsten Fall ist das Ergebnis so unansehnlich, dass ein erneuter Versuch gestartet wird, wenn nötig auch vom Oberarzt selbst.

Einmal mehr kommt mir in den Sinn, wie handwerklich die Chirurgie ist. Neben guten anatomischen Kenntnissen und einer Portion Mut und Selbstvertrauen ist eine ruhige Hand und Feinmotorik mit das wichtigste, was ein guter Arzt für den OP braucht. Clémence erzählt mir in der Pause, dass sie manchmal Angst hat, diesbezüglich nicht über genügend Begabung zu verfügen, um eine gute Chirurgin zu werden. Sie meint, in anderen Fächern könne man die meisten Mängel mit Fleiß wett machen, in der Chirurgie gehöre eine große Portion Talent dazu. Ich bin überrascht, so habe ich das ganze noch nie gesehen.

Überhaupt finge ich es interessant, wie unterschiedlich die Sichtweisen sein können. So auch beispielsweise die Gründe, die Ärzte für die Wahl ihrer Fachrichtung angeben. Einige wünschen sich ausgiebigen Patientenkontakt, andere weichen gerade diesem aus. Ein Unfallchirurg sagte mir unlängst, er finde es befriedigend, das Resultat weitestgehend in der Hand zu haben. Die Neurologen stellten beispielsweise top Diagnosen, hätten aber nur wenig wirksame Therapien zur Hand. Und in der inneren Medizin könne man sich schließlich nie sicher sein, ob der Patient sich auch an den ausgetüftelten Medikamentenplan halte; laut Statistiken werde jede zweite verschriebene Tablette nicht eingenommen. Und wiederum kommt von Seiten der Internisten das Argument, ihre Fachrichtung sei intellektuell am anspruchsvollsten. Sie schätzen das Interpretieren von Untersuchungsergebnissen und die logische Ableitung des weiteren Vorgehens. Wobei ich immer an Doctor House denke und mich frage, ob das dann nicht doch wieder etwas zu romantisch ist…

Mir wird einmal mehr bewusst, wie unterschiedlich der ‚richtige‘ Weg aussehen kann. In der Medizin, doch weiter gedacht bei allen Schritten auf dem beruflichen Werdegang und im Leben. Wichtig ist letztendlich nur, dass derjenige, der seinen Weg geht, sich auch auf dem richtigen Pfad weiß. Auf dem für ihn in diesem Moment richtigen. Die Menschen, denen das gelingt, sind für ihr Umfeld eine absolute Bereicherung. Julien, der tollste Oberarzt ‚ever‘, wirkt auf mich sehr ausgeglichen und zufrieden; ihn würde ich in diese Kategorie von erfolgreichen Menschen einordnen. (Erfolg hier nicht im Sinne von traditioneller Karriere, Geld oder Macht. Viel wichtiger: Erfolg, weil mit sich im Reinen.)

Ich habe noch ein paar Schritte vor mir, bevor ich mich entscheide, in welche Richtung ich weitergehen will. Zum Glück! Vorerst genieße ich Frankreich und bin Erasmus dankbar dafür, dass ich in Paris ausprobieren und herumtänzeln darf.

3 Gedanken zu „Nadel, Faden, Knoten

  1. Wow, das klingt richtig spannend und nach super Kollegen!
    Ich hab mal ne Frage, weil im Medizinstudium muss man ja in den OP auch wenn mans später nicht als Fachrichtung macht… Ist das schwierig? Also so das erste Mal in einer richtigen OP?
    Alles Gute & Grüße, Joschi

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    1. Hallo Joschi,
      Ich persönlich fand den ersten Tag im Präpkurs schwieriger als die erste OP – aber Fakt ist, dass sich viele erst daran gewöhnen müssen und es die ersten Male komisch sein kann. Also nicht gleich daran zweifeln, ob man für diesen Job nicht gemacht ist oder so. Und es kann sowieso alles anders kommen; anfangs hätte ich nie gedacht, dass mir die Chirurgie so gut gefällt!

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      1. Jaa das glaub ich gleich, dass Präpkurs nochmal mehr ist! Mal schauen was das wird, aber eigentlich find ich den Gedanken an Menschen rumzuschnippeln nicht so super :p

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